Carys Davies ist eine walisische Autorin von Kurzgeschichten und Romanen. Nach Jahren in den USA lebt sie heute im schottischen Edinburgh. Ihr erster Roman „West“ erschien 2019 auf Deutsch. Nun veröffentlichte der Luchterhand Literaturverlag am 14. August 2024 ihren neuen Roman „Ein klarer Tag“ in einer Übersetzung von Eva Bonné.
„Clearances und Disruption of 1843“
Auf 224 Seiten erzählt Carys Davies die Geschichte von John Ferguson, einem armen Pfarrer der neuen schottischen Freikirche, der sich 1843 aufmacht zu einer kleinen, weit nördlich vor der Küste Schottlands gelegenen Insel, um den letzten Bewohner aufzufordern, seine Heimat zu verlassen. Als Hintergrund wählt sie zwei reale historische Entwicklungen in Schottland:
Im Rahmen der sogenannten „Clearances“ im 19. Jahrhundert machten Großgrundbesitzer von ihrem Recht Gebrauch, landlose Bauern und Pächter von ihrem Besitz zu vertreiben, um dort Schafe zu züchten. Die Bauern wurden umgesiedelt oder gleich nach Amerika verschifft.
Der Pfarrer John Ferguson ist gerade aus der offiziellen „Church of Scotland“ ausgetreten, um sich der neuen, reformierten „Free Church of Scotland“ anzuschließen („Disruption of 1843“).
Die neue Kirche hat kein Geld und kann ihre Pfarrer nicht bezahlen. Deshalb lässt John sich auf einen Deal mit Strachan, dem Verwalter des Großgrundbesitzers Henry Lowrie, ein. Der letzte Bewohner eines Eilands vor der Küste Schottlands muss den Schafen weichen, dafür soll John Ferguson sorgen. Er erhält eine Vergütung von 16 Pfund.
Reverend Ferguson benötigt das Geld dringend, denn er muss für sich und seine Frau Mary sorgen und die neue Kirche aufbauen.
Als er nach stürmische Schiffsüberfahrt auf der Insel ankommt, hat er neben Kleidung und dem schriftlichen Räumungsbefehl auch ein Foto von Mary und eine Pistole mit Munition im Gepäck und eine vorformulierte Rede für den letzten Bewohner im Kopf.
Ivar ahnt nichts von der Ankunft des Fremden. Er geht seiner schweren täglichen Arbeit nach: er repariert sein Dach, füttert die Tiere, sticht Torf und versorgt die Felder.
Ferguson stürzt an „einem klaren Tag“ bei seinem ersten Spaziergang auf der Insel von einer Klippe und bleibt schwerverletzt und bewusstlos liegen.
Ivar findet zunächst die Reisetasche mit dem Foto von Mary. Er steckt das Foto ein und versteckt es. Erst später entdeckt er den Schwerverletzten und nimmt ihn bei sich auf. Ivar pflegt John Ferguson gesund, während sich Fergusons Ehefrau Mary auf den mühsamen Weg zur Insel macht. Als sie dort eintrifft, haben sich die Dinge grundlegend verändert.
Glaube, Liebe und Hoffnung in einem außergewöhnlichen Dreigestirn
Carys Davies’ „Ein klarer Tag“ ist ein kleiner, feiner Roman, der durch seine schöne Sprache und seine Klarheit besticht:
„Der Tag war klar, nur über dem fernen Horizont stand ein dünnes Wolkenband. Hätte man an jenem Morgen hoch über der Insel geschwebt, an der Seite von Tölpeln und Gänsen, Papageientauchern, Kormoranen und Austernfischern, wäre John Ferguson als winzig kleiner schwarzer Fleck erschienen, der sich vom Verwalterhaus durch rosa Grasnelken und üppiges grünes Gras bewegte.“ (S. 19/20)
Der reale geschichtliche Hintergrund liefert Brisanz, Spannung und Authentizität. Davies’ Figuren sind karg, jedoch überzeugend beschrieben. Der idealistische Ferguson, der auf der Insel tief verwurzelte Ivar und die pragmatische Mary bilden ein außergewöhnliches Dreigestirn, das mich als Leserin beeindruckt und überrascht. Und dem der Dreiklang aus Glaube, Liebe und Hoffnung gemeinsam ist.
Carys Davies erinnert an prägende historische Entwicklungen in Schottland und an eine inzwischen ausgestorbene Sprache, das Norn, die bis ins 19. Jahrhundert in den nördlichen Teilen Schottlands und den Inseln gesprochen wurde. Wobei der englische Originaltitel „CLEAR“ den geschichtlichen Kontext deutlicher spiegelt als der deutsche. Der Roman benötigt keine konstruierte Spannung. Sie erwächst ganz selbstverständlich aus den damaligen Lebensumständen der Menschen und der Unberechenbarkeit der Natur. Und dann nimmt die Geschichte am Ende eine sehr überraschende und moderne Wendung, der allerdings für meinen Geschmack etwas mehr Dramatik gutgetan hätte. „Ein klarer Tag“ von Carys Davies ist gute Literatur. Bitte lesen!
Carys Davies: Ein klarer Tag.
Aus dem Englischen von Eva Bonné.
Luchterhand Literaturverlag, August 2024.
224 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.
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