„Sein Garten Eden“ – Ein Buch besser als jede Geschichtsstunde
Der US-amerikanische Schriftsteller und Musiker Paul Harding (Jahrgang 1967) erhielt 2010 für seinen ersten Roman „Tinkers“ den renommierten Pulitzer Prize for Fiction. Mit seinem neuen Roman „Sein Garten Eden“, der am 28. August 2024 im Luchterhand Literaturverlag erschienen ist, wurde er für weitere Literaturpreise nominiert. Silvia Morawetz übersetzte den Roman ins Deutsche.
Wie in der Bibel: Eine Geschichte über die Vertreibung aus dem Paradies
Paul Hardings „Sein Garten Eden“ basiert auf einer wahren, historischen Begebenheit: auf Malaga-Island vor der Küste des US-Bundesstaates Maine lebte von ca. 1750 bis 1911 eine gemischtrassige Gruppe von Menschen, die sich überwiegend vom Fischfang und der Landwirtschaft ernährten. Mit der Einmischung des Staates und der Kirche, die das Treiben auf der Insel als „unrein“ einstufte, wurden die Bewohner und Bewohnerinnen 1912 gewaltsam vertrieben.
Bei Harding heißt die Insel „Apple Island“ und er beginnt die Erzählung 1793 mit der Ankunft von Benjamin Honey, einem ehemaligen Sklaven, und seiner Frau Patience, einer weißen Irin. Im Gepäck haben die Honeys neben Werkzeugen und anderen nützlichen Dingen auch 12 Jutesäckchen mit Apfelsamen. Daraus wurde nach diversen Rückschlägen ein Obstgarten, den Benjamin Honey als das Paradies seiner Erinnerung bezeichnete.
Ein Jahrhundert später leben die Nachkommen von Benjamin und Patience Honey immer noch auf Apple Island. Esther Honey wohnt dort mit ihrem Sohn Eha, dem Zimmermann, und dessen Kindern Ethan, Tabitha und Charlotte in einem selbstgebauten Haus im Norden der Insel direkt oberhalb des Strandes. Außer ihnen gibt es noch andere Insel-Bewohner, wie die Schwestern Violet und Iris McDermott, die sich um die verwaisten Geschwister Norma, Emily und Scotty Sockalexis kümmern, die Familie Lark, Bruder und Schwester mit neun Kindern, von denen jedoch nur noch vier leben oder die Einzelpersonen Annie Parker und Zachary Gotthelf Proverbs. Alle fristen ein kärgliches Leben, das von den natürlichen Bedingungen auf der Insel geprägt ist. Einige pendeln zwischen Festland und Insel hin und her, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie blicken auf afrikanische, indianische und europäische Vorfahren zurück, die sich vermischt und über die Jahrzehnte inzestuöse Züge angenommen haben. Mit dem Einzug des Missionars Matthew Diamond, der im Sommer auf der Insel lebt und die Kinder unterrichtet, nimmt das Unheil für die Inselbewohner seinen Lauf. Denn obwohl Mr Diamond gute Absichten verfolgt, so entdeckt und fördert er das Zeichen- und Maltalent von Ethan Honey, die Mathematikkenntnisse von Emily Sockalexis oder das Lateinlernen von Tabitha Honey, lehnt er die erwachsenen Einwohner der Insel ab:
…empfinde ich in Gegenwart eines Negers instinktiv doch unwillkürlich ein Unbehagen.“ (S. 62).
Und dann landet auch noch eine Gutachterkommission im Auftrag des Gouverneurs auf der Insel und stellt den Bewohnern ein denkbar schlechtes Zeugnis mit drastischen Folgen aus.
Die Eugenik und ihre Folgen
Nachdem ich vor einiger Zeit Carys Davies’ „Ein klarer Tag“ gelesen habe, in dem es um die Vertreibung des letzten Bewohners im Namen der Großgrundbesitzer und mit Hilfe der Kirche von einer schottischen Insel gegangen ist, ist Paul Hardings „Sein Garten Eden“ nun der zweite Roman, der sich mit einem ähnlich dunklen Teil der Geschichte auf dem „neuen“ Kontinent beschäftigt.
Die Eugenik (die Lehre von der Erbgesundheit) entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Und die Geschichte der Menschen von Apple Island, die Paul Harding erzählt bzw. die wahre Geschichte der Menschen von Malaga Island basiert auf dem damaligen Wissenschaftsstand zur Eugenik, wonach es galt die positiv bewerteten Erbanlagen der Menschen zu vergrößern. Das führte zu Maßnahmen, die wir heute als rassistisch bezeichnen würden.
Für die Menschen, die in einer einigermaßen friedlichen und funktionierenden Gemeinschaft abseits der Gesellschaft leben, bedeutet das, dass sie aufgrund ihrer Andersartigkeit, ihrer „Unreinheit“ oder wegen schnöder monetärer Interessen ihrer Heimat und ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden. Paul Harding vermeidet in „Sein Garten Eden“ eine Verurteilung der einen oder anderen Interessengruppe. Er zeichnet ein literarisches Bild von Apple Island und seinen Bewohnern. Die Charaktere sind keine Sympathieträger. Dabei kommen der Großmutter Esther Honey und dem Enkel Ethan Honey besondere Rollen zu. Esther trägt ein schweres familiäres Erbe und der „fast weiße“ Ethan erhält die Chance, die Insel zu verlassen und sein Leben anders zu leben, wobei Harding es offen lässt, ob dies auch gelingt. Der Missionar Diamond hingegen vereint den Widerspruch zwischen Hilfe und Zerstörung in sich. Durch seinen Eingriff in das fragile Leben der Inselgemeinschaft ruft er eine Katastrophe herbei, die mit dramatischen und tödlichen Konsequenzen für die Menschen endet. Die für mich berührendste Passage des Romans beschreibt den Abtransport der Familie Lark von der Insel:
„Candace griff nach dem Ende des Schlagstocks, damit er sie nicht noch einmal traf, und als Scott LeFleur ihn ihr aus der Hand riss, landete er auf Rabbits Kopf. Wie ein Eisblock beim Einstich der Ahle splittert, brach Rabbits Gehirn unter ihrem Schädel. Ihre Augen verdrehten sich nach hinten, fielen zu, und sie starb …“ (S. 272ff)
Paul Harding hat mit „Sein Garten Eden“ keine leichte, aber eine besonders eindrückliche Geschichte darüber geschrieben, was Menschen Menschen antun. Ein Buch, das besser ist als jede Geschichtsstunde!
Paul Harding: Sein Garten Eden.
Deutsch von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, August 2024.
320 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.