
In der Welt des Jahres 2130 gibt es nicht viele Anlässe, sich zu beruhigen. Außer in Spes 1, einem abgeschirmten Utopia-Dorf in Norditalien. Hier sind die Menschen – ausgewählte kreative, innovative Geister – glücklich, weil sie unter einer topmodernen Schutzglocke leben, die den unwirtlichen Bedingungen des Klimawandels trotzt. Doch das Leben im „Außen“ ist akut lebensbedrohlich. Kann so ein Experiment gelingen? Wie agieren Menschen in diesem Mikrokosmos? Woher kommt die Hoffnung? Kann Glück nur entstehen, wenn alles Unglück ausgeblendet wird? Die Kölner Autorin Carla Kaspari, Jahrgang 1991, verleiht der Zukunft eine unglaublich kraftvolle Stimme. Man kauft der Autorin jedes Wort ab. So oder so ähnlich könnten sich die Dinge wirklich entwickeln. Ein Roman, teils erschreckend, teils ironisch, immer faszinierend.
58 Grad im Sommer – Deutschland der Zukunft
Deutschland in etwa hundert Jahren: Frauen bekommen durchschnittlich nur noch 0,5 Kinder. Kein Wunder, wer möchte seinen Nachwuchs in dieser lebensfeindlichen Umgebung großziehen? Die „Outdoorsaison“ geht von Oktober bis März, nur dann können sich Menschen mit Schutzschild und weiteren Sicherheitsmaßnahmen draußen aufhalten. Im Sommer ist dies bei Temperaturen um 58 Grad inklusive hoher Feinstaubbelastung praktisch unmöglich geworden. Ganze Landstriche sind unbewohnbar geworden. Kein Wasser, kaum Sauerstoff. Selbst die KI vermag keine Lösungen zu bieten. Die Menschen sind all des Künstlichen überdrüssig, vermissen die Seele, den Tiefgang. Das Interesse an echter Kunst, an Theatern mit echten Darstellern boomt. Doch es mangelt an Ideen. Denn die Menschen sind vor allem eins: hoffnungslos.
Künstliche Dörfer für Kreative
Mitten in diesem dystopischen Szenario lässt der Sponsor und Multimillionär Dean „Dörfer“ errichten, in denen begabte Menschen ihr Talent frei entfalten können. Hier existieren künstliche Jahreszeiten und fantastische Panoramen, die an das riesige Schutzschild der Kuppel projiziert werden. Es gibt biologisches Obst und Gemüse, eigenen Wein, Mediationen und Yoga, eine achtsame Atmosphäre, kreativen Austausch, Bars, Cafés und Zeitvertreib. Die Menschen sind fröhlich, es wird großen Wert auf einen respektvollen Umgang miteinander gelegt. Coaches kümmern sich um das leibliche plus mentale Wohl der Bewohner, ein KI-gesteuertes Armband „Tenta“ analysiert die Biodaten seiner TrägerInnen ab und spricht Empfehlungen aus. Selbstoptimierung auf die Spitze getrieben. In einem dieser Dörfer in Norditalien leben Ingenieurin Thea und Malerin Esther als Mitbewohnerinnen in einer Wohneinheit. Esthers „Sonnenbilder“ sind ein Verkaufsschlager. Sie berühren die abgestumpften Menschen im „Außen“, spenden Trost und Hoffnung. Doch mit der Ankunft des Pärchens Cleo und Thomas verändert sich alles. Thea verhält sich plötzlich merkwürdig, stellt alles infrage, agiert abweisend.
Das Prinzip Hoffnung als Waffe?
Als Esther zu einer Ausstellung nach Berlin reisen soll, überschlagen sich die Ereignisse. Die dazu führen, dass Esther die Definition von Hoffnung überdenken muss. Können Menschen ohne Hoffnung existieren? Was, wenn diese Hoffnung künstlich ist – zum Beispiel durch Täuschung oder Drogen? Oder ist Hoffnung gar eine neue Art von Waffe, um Menschen gefügig zu machen?
Carla Kaspari ist ein packender Roman gelungen. Dabei streift sie viele Themen, die bereits jetzt topaktuell sind oder gerade heftig diskutiert werden. Vom Klimawandel bis zum schmalen Grat zwischen Demokratie und Autokratie – letztere „zum Wohle der Bevölkerung“. Oder die Frage nach KI, die scheinbar Seelenloses schafft, samt einer Kunstszene, die leicht ins Absurde abdriftet. Aperol trinken am Rande des Weltuntergangs – ist das dekadent oder zutiefst menschlich? Dabei behält die Autorin erstaunlicherweise ihren leichten, bisweilen sogar heiteren Ton bei. Ihr Roman wirft Fragen auf, ohne sie beantworten. Ist der Roman eine Utopie oder Dystopie? Ist das Ende beruhigend oder nicht? Die Antwort bleibt den LeserInnen selbst überlassen …
Carla Kaspari: Das Ende ist beruhigend.
Kiepenheuer & Witsch, April 2025.
272 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.