Booker-Preisträgerin übertrifft sich selbst!
Bernardine Evaristo ist nicht nur die erste Frau mit afroamerikanischen Wurzeln, die mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet wurde. Sie ist vor allem eine Autorin, deren Bücher atemberaubend anders sind. Als Meisterin der Fabulierkunst vermischt Sie Genres, überschreitet Grenzen, fordert beim Lesen heraus und unterhält doch bestens! Wer geglaubt hat, Zuleika – eine Mischung aus Versen und Instagram-Speech über eine schwarze Sklavin im London zur Zeit der römischen Besatzung – könnte nichts mehr toppen, wird mit diesem Roman eines Besseren belehrt. Diesmal verschifft Evaristo weiße Sklaven auf den afrikanischen Kontinent. In einer Welt, in der Schwarze die Weltherrschaft erlangt haben und als führende Rasse gelten, sind plötzlich Kelten, Germanen und Wikinger zur Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen verdonnert. Der Verve, mit dem Evaristo die Geschichte auf den Kopf stellt, ist einfach unglaublich. Berührend, brutal, humoristisch und mit jeder Menge starker Frauenfiguren, erleben wir Geschichte mit ganz anderen Augen. Weiße Sklaven, schwarze Herrscher
Wir begleiten die 10-jährige Doris, die als Kind von leibeigenen Bauern im beschaulichen England aufwächst. Arm, aber relativ glücklich. Eines Tages wird sie beim Versteckspielen im Wald von Sklavenhändlern entführt und nach Aphrika verschleppt. Zunächst arbeitet sie als „Living Doll“ für die Tochter des Herren, später steigt sie zur Buchhalterin auf. Trotz der relativ privilegierten Stellung –sie muss immerhin nicht auf den Plantagen und Zuckerrohrfeldern schuften – keimt in Doris alias Omorenomwara der Wunsch, zu fliehen. Sie hat keine Freiheit, keine Rechte, darf über ihren Körper nicht selbst bestimmten.
Nach missglückten Fluchtversuchen lernt sie starke Frauen kennen, allen voran die Wikingerfrau Ye Memé, die Doris wieder aufrichtet und ihr den Wert von Freundschaft und Zusammenhalt vor Augen führen. Evaristo schafft es, sich komplett vom Schwarz-Weiß-Denken zu lösen. Und zwar sprichwörtlich. Denn neben Doris kommt auch ihr Bwana, ihr Besitzer zu Wort. Er schildert seinen ersten Besuch bei den Barbaren in Europa, ist entsetzt vom Dreck, der Armut und den Gebräuchen, nachdem er ein paar öffentlichen Hexenverbrennungen und Hinrichtungen beigewohnt hat. Von der Minderwertigkeit der europiden Rasse ist der Sklavenhändler überzeugt.
Dass sie in Aphrika ebenso barbarische Bestrafungen für Sklaven wie das lebendige „Rösten“ am Spieß praktizieren, scheint nicht von Belang. Auch in der nordischen Welt sind Leibeigene wie Sklaven, müssen sich dem Willen der Feudal- und Lehensherren beugen. Egal, wer gerade die Zepter in der Hand hält, die Menschheit scheint mit ihrer Gier nach Geld und Macht stets das Schlechteste aus sich herauszuholen. Umso erstaunlicher, dass es Evaristo schafft, dem ganzen Plot unglaublich viel Herzenswärme und trockenen Humor beizumischen. Bernardine Evaristo, für ihren Roman „Mädchen, Frau etc.“ unter anderem mit dem Booker Prize ausgezeichnet, begeistert zum Beispiel mit ihrem wunderbaren „Wigger“-Dialekt, ein Kauderwelsch aus schlechtem Denglisch.
Empathie durch Rollenwechsel
Bernardine Evaristos Roman kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. In einer Welt, in der die Gleichstellung von Frauen, Schwarzen und der LGBTQ-Community wieder Rückschritte zu machen droht, schafft Evaristo einen Perspektivwechsel. Denn Empathie kann man nur aufbringen, wenn man sich in das Gegenüber hineinversetzen kann. Und wie könnte das besser gehen, als die Positionen einfach zu spiegeln und die Rollen zu vertauschen? Weiße Sklaven buckeln für die schwarze Herrscherklasse. Intelligenz und höhere Empfindungsfähigkeit wird ihnen abgesprochen. Weil ihre Schädel kleiner sind, als die der Schwarzen, gelten sie als primitiv, zurückgeblieben, gefühllos. Der Europide sei ein „Neo-Primat“. Motto: Das sind keine richtigen Menschen, die spüren nichts.
Da darf die Peitsche ruhig stärker zuschlagen und nach Lust und Laune vergewaltigt werden. Eugenik und Nazi-Phrenologie einmal anders herum. All dies ruft beim Lesen Unbehagen hervor, führt es doch das „Pretty Privilege“ der weißen Rasse vor Augen. Apropos pretty: Evaristo schafft es meisterlich, das Bodyshaming umzudrehen. Doris gilt als magere, bleiche Weiße mit „toten“ blauen Augen und dünnem lichten Haar, als hässlich. In unserer Welt ist dies freilich genau andersherum. Es ist kein Zufall, dass sämtliche Superstars mit afro-amerikanischen Wurzeln wie Beyoncé, Halle Berry oder auch Michelle Obama, ihre Afrohaare geglättet haben, möglichst helle Haut anstreben und sich sogar wie Berry die Schweißdrüsen entfernen ließen – alles, um möglichst „weißen“ Schönheitsstandards zu entsprechen. Fazit: Ein kongenialer Roman, mutig, verrückt, brutal, amüsant, unbequem und unterhaltsam. Alles zugleich.
Bernardine Evaristo zeigt sowohl Mut, als auch schriftstellerisches Können. Indem sie die Welt einmal umdreht, zeigt sie, wo wir als Gesellschaft wirklich stehen. Es gibt gar nicht so viele Sterne, wie ich für dieses Buch vergeben möchte!
Bernardine Evaristo: Blondes Herz
Tropen, Mai 2025
304 Seiten, gebundene Ausgabe, 25,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.