Ein Buch, wie dafür geschaffen, es in einem Atemzug zu verschlingen. Evaristo legt ein mitreißendes Tempo vor. Mit Witz, Wagemut und sehr viel Empathie erzählt sie die Geschichten von 12 überwiegend schwarzen Frauen in England. Beginnend um die Zeit des Ersten Weltkrieges bis ins pulsierende London der Jetzt-Zeit hinein. Dabei geht es in ihrem Roman nicht nur um Rassismus. Es geht um sehr viel mehr: Die Rede ist von Feminismus, Gender, Sexualität, Generationenkonflikten, Klassenzugehörigkeit, Urbanisierung und Gentrifizierung. Evaristo setzt dort an, wo es zu offener oder verdeckter Ausgrenzung kommt. Und sei es nur, dass diese unbewusst in Gedanken stattfindet. Dabei ist Evaristos Botschaft universell. Es geht auch darum, den eigenen Platz in dieser Welt zu finden, im Wechselspiel mit den Bedürfnissen und Ansichten anderer Menschen. Kurz: Mit diesem Buch ist der britischen Autorin ein ganz großer Wurf gelungen. Sie erhielt völlig zu Recht als erste schwarze Autorin den Booker Prize im Jahr 2019.
Im Mittelpunkt steht Dramaturgin Amma, die ein neues Stück über historisch belegte Amazonen auf die Theaterbühne bringt. Der Weg dahin war steinig. Denn als schwarze, lesbische Frau aus bescheidenen Verhältnissen, ist sie gleich mehreren Vorbehalten ausgesetzt. Ihre Antwort darauf war Rebellion in jeglicher Form. Von denkwürdigen Auftritten mit ihrer alternativen Theatergruppe bis hin zu ihrer Unterstützung der Feminismusbewegung und LGTB-Community. Hat sie nun endlich ihr Ziel erreicht? Wird das provokante Stück beim Publikum ankommen?
Am Premierenabend im National Theatre in London laufen die Fäden der übrigen Protagonistinnen zusammen. Da ist zum Beispiel Ammas Tochter Yazz – gezeugt mit dem Sperma ihres schwulen Freundes Roland, Professor für Modernes Leben an der Universität von London – welche die Ideale ihrer Mutter als rückständig bezeichnet. Der Feminismus ist doch längst überholt! Denn: „In Zukunft sind wir irgendwann alle nicht-binär, weder männlich noch weiblich, was ja alles sowieso nur Genderperformance ist, und das heißt dann auch, Mumsy, dass deine Frauenpolitik überflüssig wird.“
Dann ist da noch die attraktive Dominique mit der Amma einst das Theaterensemble geleitet ha. Sie ist mit ihrer neuen Geliebten nach Amerika gezogen, um „womanistisch“ zu leben, wird aber letztendlich von einer Frau unterdrückt. Romane von männlichen Autoren sind tabu, ebenso wie zu kurze Röcke. Während Ammas Schulfreundin Shirley als ausgebrannte Lehrerin ein recht langweiliges Leben führt und mit der ausgeflippten Clique von Shirley ihre Probleme hat.
Das Erstaunliche an diesem Roman: Bernardine Evaristo hat für jede der Frauenfiguren einen ganz eigenen Ton entwickelt. Sie schafft es spielend, in nur wenigen Kapiteln die einzelnen Charaktere absolut greifbar zu machen. Yazz hat zum Beispiel einen äußerst knochentrocken-ironischen Blick auf die Welt, dies zeigt sich in ihrer jugendlichen Sprache. Überhaupt verliert Evaristo trotz der gewaltigen Themen nie den humoristischen Unterton. Auch fallen viele ihrer Figuren nicht in gängige Klischees. Da gibt es zum Beispiel eine schwarze Farmerin mitten im englischen Hinterland. Was ihr ebenso hoch angerechnet werden sollte, ist das Fehlen jeglichen moralischen Zeigefingers. Denn Vorbehalte gibt es auf allen Seiten. Da gibt es die Stadtbevölkerung, die gegen die Landbevölkerung ätzt. Da ist die Transsexuelle, die ebenfalls in jedes erdenkliche Gender-Fettnäpfchen tritt. Eine schwarze Bankerin mit Eliteuniversitäts-Abschluss wird für ihre überraschend gute Aussprache gelobt. Afrikanische Mütter sind enttäuscht, dass ihre Kinder keine Schwarzen heiraten, eine über die Generation immer „weißer“ gewordene Familie reagiert hingegen entsetzt, als sich die Tochter einen „echten“ Afrikaner zum Ehemann aussucht.
Das Werk der britischen Autorin lädt anhand der dynamischen, mitreißenden Sprache (dabei wird zum Teil auf Interpunktion verzichtet) dazu ein, in die Leben der Protagonisten hineinzuschlüpfen, ihre Perspektiven in die eigene einfließen zu lassen. Was nicht zuletzt Brücken des Verständnisses baut.
Fazit: Das Buch zur Stunde, vielleicht sogar das Buch des Jahres! Alles, was gesellschaftliche Konstrukte momentan umtreibt – Feminismus, Rassismus, Gender, Gentrifizierung und Co – handelt Evaristo mit erstaunlicher Leichtigkeit und feinsinnigem Humor in ihrem Buch ab. 100-prozentige Leseempfehlung! Dies gilt übrigens für Leser jeglichen Geschlechts.
Bernadine Evaristo: Mädchen, Frau etc..
Tropen, Januar 2021.
512 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
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