Willem Elsschot: Maria in der Hafenkneipe (1946)

Der unter dem Pseudonym Willem Elsschot Schreibende zählt zu den wichtigsten Autoren Belgiens und der Niederlande. Er lebte in Antwerpen und begann schon sehr früh Gedichte in Zeitungen zu veröffentlichen.

Unter dem Geburtsnamen Alfons De Ridder (1882-1960) arbeitete er in Paris, Rotterdam und Brüssel. In Antwerpen gründete er eine Werbeagentur und lebte dort mit seiner Frau und sechs Kindern.

In der flämischen Literatur gelten seine elf Romane als Klassiker und wurden mit vielen Preisen bedacht. Sein Leitthema sind die Träume der kleinen Leute, mit denen sie ihrem nicht immer angenehmen Alltag zu entfliehen versuchen.

Die noch immer aktuelle Erzählung, übersetzt von Gerd Busse, begleitet einen Mann in den fünfziger Jahren, ebenfalls Vater von sechs Kindern und verheiratet, durch eine regenreiche, kalte Nacht. Eigentlich wollte er wegen des unangenehmen Wetters nach Hause, um sich am warmen Ofen hinter seiner Zeitung zu verkriechen und zu schweigen. Denn mit Zeitung lässt es sich in einer Großfamilie viel besser schweigen als ohne. Er hatte sich vorgenommen, mit seiner gewohnheitsmäßig späten Heimkehr aufzuhören. Doch dann wird er von drei Afghanen in Festtagskleidung höflich angesprochen. Die drei jüngeren Männer erklären, sie haben auf ihrem Schiff eine schöne und liebenswürdige Segelflickerin kennengelernt und sich mit ihr an einem bestimmten Ort verabredet. Der Erzähler legt das in seiner Hafenstadt übliche ablehnende Verhalten ab und hilft ihnen bei der Suche. Auf diese Weise lernt er die drei Fremden nicht nur schätzen, sondern sie finden in ihren Gesprächen neben dem Trennenden auch Gemeinsamkeiten.

Im Laufe der Nacht verändert der Erzähler seine Lebensphilosophie. Während seine Mitmenschen einen ausgiebigen Rassismus pflegen, sieht der Erzähler die Chance seiner ganz persönlichen Horizonterweiterung: „So bin ich denn endlich einmal mit Menschen unterwegs, die sich ganz und gar von jenen Volksgenossen unterscheiden, mit denen ich verdammt bin, meine Tage zu verbringen.“ (S. 19)

Der Meinungsaustausch zwischen ihm und seinen Gefährten zeigt ihm am Beispiel der Liebe und Religion, wo er selbst noch Fragen hat. „An Aufklärung ist nicht zu denken, denn sie stehen vor derselben Mauer, an der ich bereits ein halbes Jahrhundert entlanglaufe, ohne eine Tür zu finden, und sitze mit unserem Menschengott angesichts der abstrakten Einheit ihres Allahs denn auch übel in der Klemme.“ (S. 68/67)

Die drei Gefährten sind in den Augen des Erzählers wahre Romeos und zeigen ihm, dass die Liebe einfach das Wichtigste im Leben ist. Sie verbindet, wo es scheinbar Grenzen gibt. „Seine Liebe macht ihn mutig, denn er befindet sich schließlich in einem Land, in dem Menschen mit einer dunklen Hautfarbe nicht mehr zählen als ein Foxterrier.“ (S. 28)

Willem Elsschots wunderbare, teilweise humorvolle Erzählung schenkt so viele schöne Momente und Einblicke, dass ein Nicht-gelesen-haben einem Verlust sehr nahekommt.

Willem Elsschot: Maria in der Hafenkneipe (1946).
Unionsverlag, Oktober 2020.
96 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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