Anne Griffin: Die Bestatterin von Kilcross

Jeanie Mastersons Heimat ist Kilcross, ein kleiner Ort in Irland, in dem jeder jeden kennt. Ihre Familie ist mit dem Briefträger Arthur befreundet, der häufig im Familienbetrieb, Masterson Bestattungen, aushilft. Regelmäßig überlegen Jeanie, ihr Bruder und Arthur, wer wohl als Nächstes in ihrem Abschiedsraum liegen wird. Und wenn sie um einen Schokoladenriegel wetten, verliert Arthur. Inzwischen ist der Schrank mit seiner Lieblingsschokolade voll.

Früher wurde Jeanie von den anderen Kindern verspottet, deren Sprüche genauso zahlreich waren wie die Schokolade im Schrank. Denn in den Augen der Dorfbewohner ist jeder suspekt, der mit den Toten unter einem Dach schläft und mit ihnen redet.

Jeanies Vater betrachtet die Übermittlung der letzten Worte an die Trauernden als einzigartigen Service, der Mut und Trost spenden soll. Dies erklärt er immer wieder, auch dann, wenn Jeanie die Toten ganz anders verstanden hat. Und plötzlich erklärt er, er wolle mit Jeanies Mutter wegziehen und den Betrieb Jeanie und ihrer Tante Harry überlassen.

In diesem Moment bricht für Jeanie eine Welt zusammen.

Die irische Schriftstellerin Anne Griffin erhielt bereits für ihre Kurzgeschichten Literaturpreise. Nachdem ihr Debütroman den ersten Platz der irischen Bestsellerliste erreichte, wurde er auch international erfolgreich. Ihr zweiter Roman folgt ebenfalls ihrem Leitthema Liebe und Verlust. In diesem Kontext baut sie das Spannungsfeld der kurzweiligen Geschichte auf. Die Autorin beschreibt auf der einen Seite eine ungewöhnliche Familiengeschichte, in der der Zusammenhalt an erster Stelle steht. Und auf der anderen Seite geht es um das Abschiednehmen von geliebten Menschen.

Bei Masterson Bestattungen ist die Ich-Erzählerin Jeanie das zweite Medium. Zur Überraschung ihrer Eltern hört sie schon als Kleinkind die Reden der Toten. Anfangs versteht sie noch nicht, warum die Toten von ihren letzten Wünschen sprechen. Von Jahr zu Jahr gewinnt sie an Lebenserfahrung und spürt die immer größer werdende Verantwortung. Denn was würde aus den letzten Worten der Verstorbenen werden, wenn Jeanie nicht mehr zur Verfügung stünde? Als ihre große Liebe und ihre Freundinnen wegziehen, bleibt sie im Familienbetrieb. Erst als es fast zu spät ist, begreift sie, wie hoch der Preis für die Aufgabe ihrer eigenen Wünsche ist. Vor dem Hintergrund der zu späten Erkenntnisse der Verstorbenen sieht Jeanie immer deutlicher ihr eigenes Leben, das sie nicht zu leben wagt.

Die Autorin beschreibt Jeanies Gespräche mit den Toten auf eine sehr freundliche und ehrliche Art, genauso wie man sich letzte Worte wünscht. Diese besondere Form des Abschieds zeigt auf wunderbare Weise den Anfang und das Ende der Suche nach dem Sinn des Lebens. Und dies im wahrsten Sinne des Wortes.

Anne Griffin: Die Bestatterin von Kilcross.
Aus dem Englischen übersetzt von Martin Ruben Becker.
Kindler, November 2022.
384 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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