In diesem Buch geht es um jugendliche Mädchen und deren Mütter, um Freundschaft, Liebe, Lebenshunger, Anerkennung und den ungemeinen Drang, Freiheiten auszuleben: Marie, deren große Schwester Angel eine der Protagonistinnen ist, erzählt aus ihrer Sicht das Geschehen um einen Mord, an dem Angel beteiligt war.
Auch Angel selbst und ihre Gegenspielerin und gleichzeitiges Opfer Birdy, lassen in immer wieder wechselnden Kapiteln in ihre Lebenswelten samt aller Emotionen blicken. Die Vielschichtigkeit eben dieser Erzählweise verleiht dem Roman die entsprechende Tiefe. Dazu kommt die exakt wiedergegebene Darstellung eines amerikanischen Kleinstadtlebens am Rande der Gesellschaft. Man liest von den Müttern, die mühsam den Lebensunterhalt für die kleine Familie verdienen. Von der Chancenlosigkeit, jemals wieder in der Mitte der Gesellschaft ankommen zu können. Von Verzweiflung, Alkohol, Armut ebenso wie von Familiensinn und dem Wunsch dazuzugehören.
Stewart O’Nan beschreibt die heutige amerikanische Lebenssituation treffend: Man sieht die Straßenzüge mit ihren Supermärkten oder einstige Industriegebiete mit ihren zerfallenen Fabrikhallen vor sich. Einst hatten dort einmal die Großeltern Arbeit gefunden. Später hatten die Mädchen, als sie jünger waren, in den Gängen, zwischen den Webstühlen mit Rollschuhen ihre Pirouetten gedreht.
Das krasse Gegenteil dieser ärmlichen Verhältnisse zeigt sich in der Figur von Myles, Angels reichem Freund. Außer dass er ungemein gut aussieht, weist Myles keinerlei positive Eigenschaften aus. Beide Mädchen, Angel und Birdy sind Myles verfallen, wohl auch weil er aus einem reichen Elternhaus stammt und in einer Welt voller Annehmlichkeiten lebt, nach der die Mädchen sich sehnen. Jedoch trägt Myles mit seiner oberflächlichen Tumbheit maßgeblich zur Eskalation der Geschichte bei.
Die Tragik von Birdys Tod mit allem Leid, das über die Familie hereinbricht, gipfelt in dem mit lockerem Geld von Myles‘ Eltern gekauften richterlichen Urteil.
Theoretisch hätte O’Nan alle Beteiligten derselben sozialen Schicht angehören lassen können – das Handeln, die Emotionen und die Tragik wären gleich geblieben. Aber dieser Roman lebt von der Spannung, die in den unterschiedlichen Perspektiven der Figuren liegt samt ihrem sozialkritischen Lebensumfeld. Nur so kann die leidvoll endende Geschichte die Lebenswelten seiner jugendlichen Protagonisten eindrücklich und echt widerspiegeln.
Stewart O′Nan wurde 1961 in Pittsburgh geboren und ist in Boston aufgewachsen. 1993 wurde ihm der William-Faulkner-Preis für seinen Erstlingsroman „Engel im Schnee“ verliehen.
Stewart O’Nan: Ocean State.
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Gunkel.
Rowohlt, März 2022.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe , 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.