Case ist ein Hacker mit implantierter Kopplungsmöglichkeit zur virtuellen Welt, ein sogenannter Cyber-Cowboy. Er arbeitet als hochbezahlter Spezialist, bis er einen Auftraggeber hintergeht. Dieser rächt sich, in dem er das Nervensystem von Case durch Drogen so schädigt, dass diesem ein Zugang zur virtuellen Welt nicht mehr möglich ist. Case verdient sich, da der Schaden irreparabel scheint, seinen Lebensunterhalt als Auftragsmörder und als Drogendealer auf dem Schwarzmarkt. Von den Drogen, die er verkauft, ist er selbst abhängig.
Er wird von der kybernetisch optimierten Molly für den Dienst bei dem mysteriösen Armitage angeheuert. Dieser lässt den Schaden beheben, den das Nervensystem erlitten hat, und gleich eine neue Bauchspeicheldrüse einsetzen, die gegen Drogen immun ist. Als Preis für diese Wiederherstellung muss Case mit Molly in die Zentrale des Medienkonzerns Sens/Net eindringen und digitales Wissen stehlen.
Case und Molly ermitteln heimlich über ihren Auftraggeber und erfahren, dass es sich um den ehemaligen Offizier William Corto handelt, der eine berüchtigte militärische Operation in Russland als Einziger überlebte. Inzwischen nimmt die Künstliche Intelligenz Wintermute Kontakt zu den beiden auf, weil Corto/Armitage immer unzuverlässiger wird. Es stellt sich heraus, dass der Einbruch in die Zentrale von Sens/Net nur ein Test war. Das eigentliche Ziel Armitrages ist die »Villa Straylight«, die sich seit Generationen im Besitz der Familie Tessier-Ashpoole befindet. Molly und Case sollen aus dem Kern der Villa ein Objekt stehlen, das Armitage benötigt, um sich mit der Künstlichen Intelligenz Neuromancer zu verbinden.
Der dritte Handlanger, den Armitrage für dieses Projekt angeworben hat, Paul Riviera, erweist sich als ein Verräter, der beinahe das Projekt platzen lässt. Mit Hilfe einer digitalen Kopie des toten Hackers Dixie, dessen Geist sich in der virtuellen Welt des Cyberspace herumtreibt, schleust Case eine Art überdimensionalen chinesischen Virus in das Systemnetz von Straylight ein. Der Virus bahnt für Case einen Weg in das digitale Zentrum der Villa und ermöglicht Neuromacer die Kontaktaufnahme.
Dies ist, zumindest rudimentär zusammengefasst, die komplexe und ausufernde Handlung des bahnbrechenden Romans „Neuromancer“ von William Gibson, der 1984 erschien. Mit diesem ersten Roman seiner Neuromacer-Trilogie, zu der noch „Biochips“ (1986) und „Mona Lisa Overdrive“ (1988) gehören, schuf der Autor einen modernen Mythos: den Cyberspace. In dieser Welt hinter dem Bildschirm, einer künstlich erzeugten Realität, sind die Computerhacker über Gehirnimplantate mit den in den Computer wohnenden Künstlichen Intelligenzen verbunden und können mit diesen interagieren.
Gibson inspirierte damit Wissenschaftler und Philosophen, Computerpioniere und Künstler und begründete eine neue literarische Bewegung. Dieser sogenannte Cyberpunk beeinflusste die Literatur der achtziger und neunziger Jahre des letzten Jahrtausends maßgeblich. Die Annahme einer künstlich erzeugten Welt hinter der Realität, die wir erleben, ist ohne den Roman „Neuromancer“ nicht vorstellbar. Gibsons Text ist nicht der erste, der dem Cyberpunk zugerechnet werden kann, aber er ist wegen seiner dichten und visionären Sprache wegweisend.
Wie bewegt man sich in der virtuellen Realität, was empfindet man dabei, welche geistigen Bilder drängen sich dabei auf? Das sind die Fragen, die Gibson stellt und die er in seinem Roman zu beantworten versucht. Das gelingt ihm nicht immer. Manche seiner Vorstellungen belächelt der Leser von heute wie die Disketten, die Case und seine Mitstreiter stets mit sich herumschleppen. Andere sind tatsächlich Wirklichkeit geworden wie das weltumspannende Netzwerk, in das man sich von jedem Ort einklinken kann. Immer noch unerreichbar ist fast dreißig Jahre nach Erscheinen des Romans die Vernetzung von Mensch und Maschine.
„Neuromancer“ ist als Einzelband schon länger vergriffen. Im Dezember 2009 ist im Heyne Verlag eine Ausgabe aller drei Bände in neuer Übersetzung erschienen. Die drei Romane sind nur lose miteinander verbunden und können daher ohne Verständnisprobleme unabhängig voneinander gelesen werden.
William Gibson: Neuromancer (1984).
Heyne, Dezember 2009.
992 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Martina Sprenger.