Valérie Perrin: Unter den hundertjährigen Linden

Eine Frau lebt auf einem Friedhof, sie ist dort Friedhofswärterin. Sie ist genügsam, schweigsam, einsam. Violette Toussaints kennt alle Gräber auf „ihrem“ Friedhof, sie besucht täglich „ihre“ Toten, sie versorgt sogar, wenn die Angehörigen verhindert sind, die Blumen auf den Gräbern. Und sie hört zu, sie hört den vielen Besuchern zu, die zu ihr kommen, mit ihr Tee trinken und ihre Geschichten erzählen.

Violette ist mittleren Alters und lebt allein, seit ihr Mann vor vielen Jahren spurlos verschwand. Er ging einfach fort und sie hat seither nie wieder von ihm gehört. Sie weint ihm keine Träne nach, er hat sie schlecht behandelt. Sie hat ihn kennengelernt, als sie noch minderjährig war. Violette wuchs in einem Waisenhaus auf und für sie war Philippe Toussaints nicht nur der Mann ihre Träume, sondern auch die Erlösung aus dem Waisenhaus. Als sie schwanger wurde, zogen sie auf ein winziges Dorf und wurden Schrankenwärter.

Und nun ist Violette Friedhofswärterin. Sie begegnet vielen Menschen, darunter auch dem Kommissar Julien Seul, dessen Mutter neben einem Mann, der auf Violettes Friedhof liegt und von dem Julien nie zuvor gehört hatte, begraben werden möchte. Im Laufe der Zeit, während Julien und Violette die Geschichte seiner Mutter in deren Tagebuch lesen, kommen die beiden sich näher.

Der Roman ist aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Violette geschrieben. Das Thema ist interessant, Violettes Geschichte sehr berührend, die handelnden Personen gut ausgearbeitet und detailliert beschrieben. Die Figuren entwickeln sich, vor allem natürlich Violette, die sich aus der völligen Abhängigkeit von ihrem Mann zu einer selbstständigen Frau wandelt. Und der Autorin gelingt es, die Trauer, die Violette wegen des Verlustes eines geliebten Menschen empfindet, nachfühlbar zu schildern. Violette und Philippe, aber auch Julien und andere, denen Violette im Laufe ihres Lebens begegnet, sind eigenwillige, außergewöhnliche Charaktere.

Aber der Roman liest sich trotz allem sehr mühsam. Zum einen liegt das daran, dass sehr viele Personen auftreten und von nahezu jedem, auch von relativ unbedeutenden Nebenfiguren, wie zum Beispiel den auf Violettes Friedhof Bestatteten, die jeweilige Geschichte ausführlich berichtet wird. Zum andern an den sehr häufigen Zeitsprüngen, teilweise mitten im Kapitel oder gar mitten auf der Seite. Im Grunde erzählt der Roman mehrere Geschichten auf verschiedenen Zeitebenen. Überhaupt wird sehr viel sehr ausführlich erzählt, wodurch der Roman etwas langatmig gerät.

Ich empfand all das während des Lesens ausgesprochen anstrengend und es hat meine Lesefreude einigermaßen gedämpft. Was schade ist, denn, wie gesagt, der Inhalt ist anrührend und könnte fesselnd und spannend sein.

Valérie Perrin: Unter den hundertjährigen Linden.
Knaur, November 2019.
512 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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