Im Grunde führen Titel und Klappentext dieses Romans etwas in die Irre. Denn weniger als die Story über eines der ersten deutschen Versandhäuser steht die sehr verwickelte und ziemlich abenteuerliche Familiengeschichte der Protagonisten im Vordergrund der Handlung.
Ende der Fünfziger Jahre bauen Kurt Laube und seine um einiges jüngere Ehefrau Annie in Fulda das Versandhaus unter dem Namen Eulendorf auf. Annie erwartet ihr erstes Kind und findet sich nur schwer damit ab, dass sie erst wegen der Schwangerschaft und danach, um die kleine Tochter zu betreuen, ans Haus gebunden ist. Sie engagiert sich sehr für die Firma ihres Mannes, bringt viele frische Ideen hinein und agiert dadurch für eine Frau der damaligen Zeit durchaus ungewöhnlich. Durch ihre Mutterrolle fühlt sie sich nun von dem Geschehen in der Firma abgeschnitten.
In einem rückblickenden Handlungsstrang wird von Kurts Kindheit erzählt. Im Alter von 8 Jahren, kurz nach dem 1. Weltkrieg, wurde seine Familie aus Polen aus dem Ort Eulendorf vertrieben. Den sich im Verlauf des Romans entwirrenden Verwicklungen innerhalb seiner Familie – auf die ich hier nicht näher eingehen will, um nicht zu spoilern – liegen, so die Autorenvita, wohl eigene Familiengeschichten zugrunde. Ulrike Wolff ist das Pseudonym des Autorenehepaars Ulrike Gerold und Wolfgang Hänel. Im Nachwort erläutern sie, dass die Handlung auf wahren Begebenheiten beruht, sie sich jedoch auch der Freiheiten der Fiktion bedienen.
Während Annie immer tiefer in die Familienhistorie eintaucht, wächst die Firma stetig weiter. Kurt entwickelt eine Vorliebe für das Dressurreiten und schließt Freundschaft mit den großen Reitern dieser Zeit, wie Hans-Günter Winkler oder Alwin Schockemöhle. Gleichzeitig wird Eulendorf zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für das ebenfalls in dieser Zeit wachsende Versandhaus Neckermann. Dabei bedeuten etliche der Familiengeheimnisse eine ziemlich große Gefahr für den Erfolg und Weiterbestand der Firma Eulendorf.
Auch wenn die abstrusen Familienbande mir manchmal zu hanebüchen erschienen, ein klein wenig an einen Groschenheftroman erinnerten, hat mir der Roman gefallen, weil es den Autoren wunderbar gelingt, das Zeitkolorit einzufangen. Die Reduzierung der Frau auf ihre Rolle als Mutter und Ehefrau, die Erwähnung der damaligen Automobile, der Berühmtheiten und der Musik aus dieser Zeit, mit all dem wird ein herrliches Bild des Nachkriegsdeutschlands gezeichnet. Und das wird ergänzt durch das Lokalkolorit, der authentischen und stimmigen Beschreibung von Fulda und seiner sehr konservativen dortigen Bevölkerung, die mich, die ich viele Jahre dort gelebt habe, naturgemäß besonders angesprochen hat.
Nicht nur deswegen habe ich das Buch gerne gelesen, es ist spannend, so dass man es kaum aus der Hand legen mag, es ist flüssig und locker geschrieben, dabei durchaus in einer der geschilderten Zeit angemessenen Sprache. Es wird vermutlich nicht das letzte Werk der beiden Autoren sein, das ich lese.
Ulrike Wolff: Die Dame vom Versandhandel.
Ullstein, Juni 2020.
480 Seiten, Taschenbuch, 10,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.