Es braucht grade mal etwa 70 Seiten, bis dieser Thriller mit der ersten überraschenden Wendung aufwartet, die alles, was man bisher gelesen hatte, in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt.
Hat man bisher etwa alles einfach falsch verstanden? Lena, eigentlich Hauptkommissarin beim LKA Niedersachsen, nimmt sich eine Auszeit. Sie muss die Ermordung ihrer Schwester verarbeiten, deren Leiche bisher allerdings nicht gefunden wurde. Jette ist wohl Opfer des sogenannten Gezeitenmörders geworden, der inzwischen neun Frauen ermordet haben soll. Als Umweltpraktikantin auf der Vogelinsel Scharhörn will sie Abstand gewinnen, doch immer wieder hat sie Albträume, außerdem lässt sie der Gedanke nicht los, dass bei den Ermittlungen zum Tod ihrer Schwester und der anderen Frauen geschlampt wurde. Nach einem Unwetter findet Lena in den Dünen der Insel eine männliche Leiche, in den Taschen der Jacke des offenbar Ermordeten findet sie Schmuck. Genau jene Schmuckstücke, die der Gezeitenmörder seinen Opfern abgenommen hat. Eindeutig: eine Kette, die ihrer Schwester Jette gehört hat. Für Lena der Moment, sich wieder aktiv an den Ermittlungen zu beteiligen, wieder Teil der Soko oder wenigstens des Teams zu werden. Doch stattdessen findet sich Lena in einer psychiatrischen Klinik wieder – angeblich hat sie Wahnvorstellungen! Lena beginnt, an sich selbst zu zweifeln, gleichzeitig aber auch nach wie vor an den Ermittlungen. Was wird hier gespielt?
Immer wieder geht es in dieser verschlungen gestrickten Geschichte um Gedächtnislücken, Manipulationen, falsche Fährten und Flashbacks, irre Wendungen und insbesondere für Lena selbst Herausforderungen, denen sie sich stellen muss, wenn sie den Fall lösen möchte. Trauen kann sie eigentlich niemandem mehr. Einzig ihr alter Freund Mickel, der sie und ihre Schwester schon seit Kindertagen kennt, scheint ihr vertrauenswürdig und unterstützt sie aktiv. Als Leser steht man häufiger vor der Frage, was jetzt eigentlich wirklich geschieht oder was Hirngespinste sind. Die unterschiedlichen Zeitebenen machen es nicht einfacher, der Handlung zu folgen. Doch die Rückblenden erklären uns, was vor Jettes Verschwinden passiert ist, woran sie gearbeitet hat und was so brisant daran war. Die familiären Umstände werden geschildert, das Leben auf dem Dorf, in dem Jette und Lena mit ihren Freunden, ihrer Clique aufgewachsen sind, die Veränderungen zur aktuellen Zeit. Auch wenn es manchmal ein bisschen schwierig ist, die einzelnen Schilderungen in Bezug zueinander zu bringen, sind sie doch wichtig und erhellend für das gegenwärtige, verworrene Geschehen, mit dem Lena zurechtkommen muss.
Ein Geflecht aus Lügen und Intrigen tut sich auf und will entwirrt werden. Die Handlung nimmt einen absolut mit, man fiebert mit den Akteuren, insbesondere Lena, die alles daransetzt, aufzudecken, welche kriminellen Machenschaften hier vor sich gehen und wer alles seine Finger im Spiel hat. Was sie herausfindet, ist nicht nur eine große menschliche Enttäuschung, es kostet sie auch mehr als einmal fast das Leben.
Temporeich, raffiniert gestrickt, immer wieder neue, überraschende Wendungen lassen einen „dranbleiben“ und mitfiebern. Eine irre Geschichte über die Manipulation von Erinnerungen, des Gedächtnisses. Bereits angesprochen im Zitat der US-amerikanischen Psychologin Elizabeth Loftus, das dem Prolog vorangestellt ist und das Thema des Thrillers quasi zusammenfasst.
Tim Pieper: Die Mündung
Emons-Verlag, März 2025
384 Seiten, Paperback, 18,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.