Die Autorin Linn Ullmann ist die Tochter des berühmten Regisseurs Ingmar Bergman und der Schauspielerin Liv Ullmann. Sie gilt als eine der bedeutendsten skandinavischen Autorinnen. Ihre Romane wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet und erscheinen in über zwanzig Sprachen. Eine Rezension zu ihrem vorangegangenen Roman „Die Unruhigen“ ist ebenfalls in unserem Leselust-Portal nachzulesen.
Linn Ullmann versucht sich im Jahr 2021 rückzuerinnern, was fast vierzig Jahre zuvor, im Jahr 1983, vorgefallen ist. Damals war sie sechzehn Jahre alt. Erst jetzt, nach achtunddreißig Jahren, ist sie bereit, nach Antworten zu suchen. Ist alles so gewesen, wie ihre Erinnerungen es vorgeben, oder hat sie Wünsche und Träume in ihrer Fantasie dazugefügt, um Traumatisches auszulöschen? In ihrer Annäherung an die Vergangenheit entsteht diese autofiktionale Erzählung. Wiederholt stößt man im Buch auf den Satz „Das Mädchen, das ich war, und die Frau, die ich bin“.
Im Schatten der berühmten, schönen Mutter Liv Ullmann aufzuwachsen, war nicht immer leicht für Linn. Vielleicht ist das Mädchen deshalb schon früh auf der Suche nach sich selbst. Wie alle heranwachsenden Mädchen will sie kein Kind mehr sein, gleichzeitig will sie sich mehr in den Mittelgrund rücken, will nicht allein sein, will vor allem geliebt werden. Eine imaginäre Schwester wird zu ihrem zweiten Ich, zu ihrer Verbündeten.
Gegen den Willen der Mutter fliegt die sechzehnjährige Linn 1983 allein nach Paris. Ein Modefotograf, dem Linn im Aufzug ihrer New Yorker Wohnung aufgefallen war, hat sie eingeladen. Er möchte Fotos von ihr für die französische Vogue machen.
Obwohl, oder gerade weil dieser Parisaufenthalt für sie eine in vielerlei Hinsicht einschneidende Episode war, bleibt vieles in Linn Ullmanns Erinnerung vergessen. Fiktion und Realität verschwimmen vielleicht aber auch, um Unerträgliches ertragen zu können. Schmerzliche Fragen bleiben teilweise weiße Flecken im Gesamtbild.
Wie haben sich die Vorkommnisse in Paris auf Linns weitere Entwicklung ausgewirkt? Mittlerweile ist die Zeit längst über alles hinweggegangen. Niemand erinnert sich mehr an das Foto, das der Fotograf von ihr gemacht hat und das 1983 in einem französischen Schönheitsmagazin abgedruckt wurde. Sie selbst hat nicht einmal mehr eine Ausgabe dieses Magazins aufbewahrt.
Ein Geschehnis, das #MeToo zugeordnet werden kann, wird sichtbar. Auch in Linns Erinnerungen tauchen übergriffige Männer auf, die ihre Machtposition schamlos ausnutzten. Die #MeToo-Bewegung hat es möglich gemacht, dass diese Männer mittlerweile alle von ihrer Vergangenheit eingeholt wurden.
Immer wieder lässt die Autorin in Vergessenheit geratenes politisches Zeitgeschehen aus 1983 einfließen. So wird an eine Ära angeknüpft, an deren sexistische Gepflogenheiten man sich ebenso nicht mehr erinnert.
Linn Ullmann thematisiert in ihren Erinnerungen das toxische Aufeinandertreffen einer zu jungen, unreifen Heranwachsenden mit zu alten, die Situation ausnutzenden, übergriffigen Männern. Damit gewährt sie den Blick in ihr verletztes Inneres.
Linn Ullmann: Mädchen 1983.
Übersetzung aus dem Norwegischen: Paul Berf.
Luchterhand, Juni 2025.
gebundene Ausgabe, 288 Seiten, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.