Ein neuer Fall für Leo Wechsler, den Kommissar im Berlin der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Was mir an dieser Krimireihe der Mönchengladbacher Autorin so gut gefällt, ist die Schilderung normaler Menschen in (mehr oder weniger) normalen Verhältnissen. Anders als in so vielen anderen Büchern oder Filmen, die vor allem die nächtliche, die schattige Seite des Berlins dieser Jahre zeigen, treffen wir in den Wechsler-Krimis auf Alltag, Menschen mit alltäglichen Problemen oder mit alltäglichem Glück.
Wobei das Mordopfer natürlich weniger Glück hat, als der Mann nämlich vom Dach des Ullstein-Hauses gestoßen wird. Moritz Graf war das, was man heute einen Investigativ-Journalisten nennt. Aufgrund seiner erfolgreichen Artikel, die auf akribischen Recherchen beruhten, hatte er einigen Freiraum im Verlag, darunter das Privileg, auch mal auf dem Dach des Hauses zu schreiben. Das wurde ihm nun zum Verhängnis.
Leo Wechsler und sein Team finden lange nicht heraus, was denn das Motiv für den Mord war und fischen daher in vielen trüben Gewässern. In Verdacht gerät ein Arbeitsloser ohne Obdach, aber auch Mitarbeiter anderer Verlagshäuser kommen ins Visier der Polizei. Dabei spielt auch die damalige politische Situation in Deutschland und besonders in Berlin eine erhebliche Rolle, gerät doch Leo Wechsler unter heftigen Druck und wird sogar bedroht.
Selbst als erfahrene Krimileserin gelingt es nicht, auch nur im Entferntesten zu erraten, worauf das Ganze hinausläuft, zu viele Fäden verwirren sich immer mehr und führen in die Irre. Immer wieder hat man einen anderen Verdacht, meint man, eine Spur zu erkennen. Doch neue Verhöre bringen wieder neue Erkenntnisse.
Der Handlungsaufbau ist also perfekt durchdacht, die Fährten geschickt ausgelegt und nie ist man als Leserin den Ermittlern auch nur um Nasenlänge voraus. Und das, obwohl wir immer wieder Szenen erleben, in denen dunkle Andeutungen gemacht werden und mysteriöse Verbindungen auftauchen.
Gerade hier liegt für mich aber auch ein großes Manko dieses Kriminalromans. Es beginnt schon damit, dass auf den ersten 30 Seiten gefühlt ebenso viele Figuren eingeführt werden, mit Vor- und Zunamen, mit Beruf und Aussehen. Das ist zu viel und zu früh, mir jedenfalls gelang es sehr lange nicht, diese Menschen alle auseinanderzuhalten und ihrer Rolle zuzuordnen. Man fragt sich bei jeder neuen Figur: Ist sie für die Handlung wichtig? Muss ich sie mir merken oder ist es nur ein Statist?
Darüber hinaus wird jede Szene aus anderem Blickwinkel erzählt, mal aus dem eines Kripobeamten, mal aus der Sicht des Verdächtigen, mal erfährt man, was Clara, Leos Ehefrau denkt und tut. Bei all diesen zahlreichen Charakteren – diverse Kriminalbeamte, etliche Verlagsmitarbeiter und noch viele mehr – gelingt es daher nicht, Zugang zu einer davon zu bekommen. Man bleibt auf Distanz, kann sich nicht ein-, nicht mit-fühlen.
Dem gegenüber steht die bereits erwähnte sehr genaue, dabei nie übertrieben detaillierte Schilderung des historischen Umfelds und der städtischen Probleme. Diese kann man nicht hoch genug loben, denn sie sind plastisch, authentisch und nachfühlbar. Das kann nur mit einer fundierten Recherche gelingen.
Ohne zu spoilern kann man jetzt schon sagen, dass diese Reihe unbedingt weitergehen muss, sind doch viele lose Fäden hängen geblieben am Ende dieses Bandes.
Susanne Goga: Schatten in der Friedrichstadt.
dtv, Februar 2022.
336 Seiten, Taschenbuch, 12,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.