Fenstersturz im idyllischen Seniorenheim
Mord oder Selbstmord, das ist eine Frage in diesem geruhsam erzählten Roman, der kein Krimi sein will.
Dieses Seniorenheim namens Babbington Hall scheint ein Idyll zu sein. Ein wunderschönes altes Haus, liebevoll renoviert, mitten in einem großen Garten, voller mehr oder weniger skurriler alter Menschen. Eine davon, die liebenswerte Florence Butterfield, 87 Jahre alt und auf den Rollstuhl angewiesen.
Florrie, wie sie genannt wird, kann gut zuhören und so vertraut sich Renata, die Heimleiterin, ihr eines Tages an und erzählt von ihrer neuen Liebe, ihren Zukunftsplänen. Doch am nächsten Tag stürzt Renata aus dem Fenster. Alle vermuten Selbstmord, doch Florrie glaubt nicht daran. Wer frisch verliebt ist und von Paris träumt, bringt sich nicht um.
Florence Butterfield hat selbst ein sehr abwechslungsreiches Leben, ein Leben voller Abenteuer, aber auch voller Schmerz, hinter sich. Viele Erinnerungsstücke bewahrt sie in einer kleinen Kiste auf, in der sie immer mal wieder kramt, und holt so die damaligen Ereignisse wieder zurück. Doch es gibt ein Geschehen in ihrer Vergangenheit, über das sie niemals spricht.
Während Florrie einerseits in ihren Erinnerungen versinkt und uns als Leser daran teilhaben lässt, versucht sie andererseits zu beweisen, dass Renatas Sturz kein Selbstmordversuch war, sondern ein Mordversuch. Hilfe findet sie beim Mitbewohner Stanhope Jones, der ebenfalls nicht an Selbstmord glaubt. Den beiden alten Leuten wird dabei schnell klar, dass der potenzielle Mörder bzw. Mörderin in Babbington Hall leben muss. Doch es dauert lange, bis sie der Wahrheit nahekommen.
Geruhsam, ohne Effekthascherei oder Dramatik, so wie sich alte Menschen durchs Leben bewegen, so bewegt sich der Roman durch die Ereignisse. Immer wieder wird die aktuelle Handlung unterbrochen durch die Rückblicke auf Florries Leben. Nicht immer sind diese Einblicke in die Vergangenheit besonders spannend, warmherzig und berührend wohl aber schon. Besonders aber berühren die aktuellen Gedankengänge Florries, ihre genaue Beobachtungsgabe, ihr jung gebliebener Verstand, ihre Güte und ihre Abgeklärtheit. „… Wir lassen die Kinder, die wir einmal waren, nicht hinter uns. Wir wachsen einfach um sie herum, so wie Bäume um ein Fahrrad wachsen, das am Stamm angelehnt stehen bleibt – und Florrie erfreut sich an diesem Vergleich.“ (S. 88).
All dies so wahrhaftig, so glaubhaft darzustellen, ist ein großes Verdienst von Susan Fletcher. Ein Roman, der vor allem dazu anregt, über das eigene Verständnis vom Älterwerden nachzudenken.
Susan Fletcher – Florence Butterfield und die Nachtschwalbe
aus dem Englischen von Silke Jellinghaus und Katharina Neumann
Kindler, November 2023
Gebundene Ausgabe, 495 Seiten, 24,00 €
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.