1974 erschien der Roman Karen W. von Gerti Tetzner zum ersten Mal in der ehemaligen DDR. Er wurde unter anderem wegen seiner Originalität ein großer Erfolg im In- und Ausland. Die in Thüringen geborene Autorin schreibt Gegenwartsliteratur, in der universelle Themen wie Liebe, Selbstbestimmung, Freiheit in einen gesellschaftlichen und damit indirekt in einen politischen Kontext gesetzt werden.
Karen W.’s Geschichte beschreibt, wie eine Jugendliche als Erste aus ihrem bäuerlichen Dorf die Oberschule besuchen darf, Jura studiert und danach als Rechtsanwältin und Notarin für die Erbschafts- und Grundbuchangelegenheiten der Landbevölkerung zuständig wird. In den 1960-er Jahren findet in der jungen DDR ein gewaltiger Umbruch statt. Einzeleigentum wird in Gemeinschaftseigentum umgewandelt. Darüber hinaus wird unternehmerisches Handeln und Denken unter staatlicher Führung den Genossenschaften zugeordnet. Gemeinwohl steht nun über dem eigenen Wohl. Am Beispiel von Paul, einem eigenverantwortlich arbeitenden Hühnerzüchter, wird sichtbar, wie ein fleißiger, strebsamer Mensch sein Lebenswerk verliert und gesellschaftlich geächtet wird. Sein wirtschaftlicher Erfolg passt nicht zu der angeordneten modernen Massentierhaltung. Also verweigert man ihm die Medikamente, die den Ausbruch einer Infektionskrankheit bei seinen Hühnern verhindern könnte. Als alle Hühner gestorben sind, will ihn die dörfliche Genossenschaft ins Gefängnis bringen.
Karen fühlt sich für diesen Hühnerzüchter verantwortlich. Aktuell ist er wieder ihr Nachbar. Früher war Paul ihr Fürsprecher und hatte sich für ihre schulische Laufbahn eingesetzt. Er wäre vielleicht auch ihr Schwiegervater geworden. Doch während ihres Studiums hat Karen den gleichgesinnten Studenten Peters kennengelernt.
Karens Geschichte zeigt anschaulich, wie der Staat DDR mit seinem angeordneten Umdenken auch Wissenschaftler wie Peters verändert und damit gleichzeitig in das Innere der Familien einzudringen vermag. Im Laufe von acht Jahren wird Peters wie eine andere Person, sodass Karin kaum noch seinen Namen nennt. Der häufig abwesende Vater ihrer Tochter Bettina ist ein „Er“ geworden. Wie soll Karen, eine Freidenkerin und Träumerin, in einer Partnerschaft und in einer Gesellschaft leben, zu der sie immer weniger passt?
„Peters … springt auf, rennt … „Hühner. Hühner! Seit Tagen Hühner! Da kommt dieser Tierarzt, und du rennst mitten in der Nacht nach Impfzeug. Da krepieren Viecher – und du rennst, sie wegzuräumen. Ist das etwa dein viel gepriesenes Leben ‚auf andere Art‘?“ Er bleibt … stehen, nimmt mich bei den Schultern und schüttelt mich, als müsste er mich wach rütteln: „Und wir? Was wird aus uns?“ (S. 278)
Der Aufbau Verlag hat der in Berlin lebenden Gerti Tetzner eine neue literarische Heimat gegeben. Ihr heutiger Blick auf das Leben im nicht mehr geteilten Deutschland dürfte eine spannende Sicht in einem literarischen Kleid werden. Ihre Perspektive auf die junge DDR ist in jeder Hinsicht lohnenswert. Sie beschreibt anschaulich, wie sie das entbehrungsreiche Leben in der Arbeiterschaft erlebt hat.
Im ebenfalls veröffentlichten Interview findet man aufschlussreiche Hintergrundinformationen, die Karen W.‘ Geschichte und Gerti Tetzners Werdegang durchleuchten.
Gerti Tetzner: Karen W.
Aufbau Verlag, August 2025
398 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 24,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.