Stacy Willingham: Das siebte Mädchen

Chloe Davis erklärt, sie habe den Beruf der Psychologin nicht ergriffen, um einen leichten Zugang zu Medikamenten zu haben. „Ich wurde Psychologin, weil ich verstehe, was ein Trauma ist; ich verstehe es auf eine Weise, die keine Ausbildung einem je lehren könnte. Ich verstehe, wie das Gehirn jeden Bereich des Körpers sabotieren kann […] Und wie sie (Emotionen) dafür sorgen, dass […] dumpfer, pochender Dauerschmerz […] niemals vergeht.“ (S. 70)

Doch Chloes Dauerschmerz bekommt neue Nahrung. In ihrer Umgebung verschwinden zwei Mädchen, deren Körper später in der Nähe ihrer Praxis abgelegt werden. Zur gleichen Zeit irritiert sie ein Reporter aus New York, der zum zwanzigsten Jahrestag einen Artikel über die Mordserie schreiben will, für die ihr Vater ins Gefängnis ging. Chloe glaubt, in einem Déjà-vu gefangen zu sein. Ihr Alltag fühlt sich seltsam und furchterregend zugleich an. Auch die baldige Hochzeit mit Daniel verunsichert sie. Und warum verhält er sich so komisch, als wollte er vor ihr etwas verheimlichen?

Die Autorin Stacy Willingham studierte Journalismus in Georgia und arbeitete danach in der Werbebranche. Die Entstehungsgeschichte ihres ersten Thrillers klingt wie für einen Film gemacht: Von jetzt auf gleich beschließt sie den beruflichen Ausstieg. Sie will schreiben und wird hierfür von ihrem Mann und ihrer Familie unterstützt. Als sie die ersten drei Kapitel einem Literaturagenten anbietet, wird sie von diesem ebenfalls unterstützt. Das Endergebnis gibt ihnen allen Recht. Inzwischen erscheint ihr Debüt in 14 Ländern und wird verfilmt.

Im Zentrum ihres extrem kurzweiligen Thrillers steht die traumatisierte Chloe, der Tochter eines verurteilten Serienmörders. Nach dessen Verhaftung wird ihre Familie von vielen Menschen nicht nur verbal, in den Medien sondern auch körperlich angegriffen. Ihre Familie leidet, Chloe leidet und versucht unter anderem, mit Tabletten ihre Traumata zu unterdrücken. Das Studium ermöglichte ihr, die Vergangenheit und die düsteren Erinnerungen hinter sich zu lassen, jedoch ohne eine Perspektive für einen Neubeginn. Dies ändert sich, als Daniel in ihr Leben tritt. Chloe will mit seiner Hilfe die Kontrolle über ihr Leben zurück. Aber dies geht nur, wenn sie sich an alles erinnert und darüber spricht.

Sehr geschickt baut Stacy Willingham Rückblenden und Aktuelles zu einem spannenden Puzzlespiel. Die Ich-Erzählerin erlaubt tiefe Einblicke, die die gesamte Geschichte erlebbar und begreifbar machen. Auf der einen Seite ist es spannend, von Chloes Suche nach dem neuen Serienmörder zu erfahren, doch viel einnehmender ist die Frage, ob Chloe sich bei der Auseinandersetzung mit so vielen Morden von ihren Traumata befreien kann.

Handwerklich und inhaltlich überzeugt der kurzweilige Thriller. Er wurde aus dem Englischen von Alice Jakubeit übersetzt.

Stacy Willingham: Das siebte Mädchen.
Aus dem Englischen übersetzt von Alice Jakubeit.
rororo, August 2022.
448 Seiten, Taschenbuch, 13,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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