Eine Insel voller Kinder. In den Nachkriegsjahren. Schon in wohlversorgten, erschlossenen Landschaften kein einfaches Unterfanen, auf einer einsamen, kargen norwegischen Insel aber sicher eine ganz besondere Herausforderung. Dennoch nimmt Ingrid ein weiteres verlorenes Kind auf.
Darum geht es in dem neuen Roman aus Norwegen, der Fortsetzung von „Die Unsichtbaren“, dem Roman, von dem ich vor zwei Jahren so begeistert war. Der kleine Mathias bleibt bei Ingrid auf der Insel, als sein Vater, der das Milchschiff fährt, ihn dort zurücklässt und nicht wiederkommt. Mathias, dessen Mutter ebenfalls schon vorher einfach verschwand, hat eine undurchschaubare Herkunft, man weiß es nicht, man munkelt nur. Nun also kommt er unter Ingrids Fittiche, die doch, damals selbst noch halb Kind, bereits andere mutter- oder vaterlose Kinder bei sich aufgenommen hatte. Hinzu kommen ihre Tante Barbro, deren Sohn Lars mit seiner Familie und die Nachkommen der anderen Adoptierten, die alle auf Barrøy wohnen und ernährt werden müssen.
Wieder führt uns der Autor die Härte und Unerbittlichkeit des Lebens im hohen Norden, abgeschnitten von allem, was wir für Zivilisation halten – Strom, fließend Wasser, tägliche Zeitung, Nachrichten, regelmäßige Postzustellung – drastisch vor Augen. Immerhin spielt sich die Handlung nun, ohne dass dies ausdrücklich benannt wird, in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ab. Ingrid, die im letzten Teil des Vorgängerbuchs den Vater ihrer Tochter Kaja suchte und nicht fand, zieht diese und all die anderen Kinder, Neffen und Nichten oder Enkel ohne viel Aufhebens, ohne übermäßige Gefühlsausbrüche, aber mit Liebe und Verständnis auf.
Im vorliegenden Band steht also Mathias im Mittelpunkt, der unter Ingrids Obhut vom verstörten, sprachlosen kleinen Kind zu einem aufgeweckten, intelligenten und geschickten Jungen heranwächst. Dabei, ohne es zu wollen, immer wieder Ingrid und die Familie vor entscheidende Fragen stellt, die auch mit seiner Herkunft zu tun haben.
Ingrid aber ist die Heldin des Romans, eine Frau, die sich selbst immer treu bleibt, sich selbst nie zu wichtig nimmt, die immer erst sorgfältig überlegt, bevor sie entscheidet, dennoch aber ihre Spontaneität bewahrt. Die sich nicht scheut, Dinge, die sie nicht versteht, zu hinterfragen, die Regeln bricht, die sie für unsinnig hält und die vor allem für ihr Tun und für die Kinder, die auf die Insel gespült werden, Verantwortung übernimmt und dazu steht.
Sie ist spröde, wortkarg, hart zu sich und anderen und dann wieder voller Liebe und Verständnis. Und so ist auch der Roman spröde und wortkarg. Die Menschen auf Barrøy reden nicht viel, sie zeigen wenige Gefühle, was nicht bedeutet, dass sie keine haben. Wie auch schon in „Die Unsichtbaren“ vermag es Roy Jacobsen durch seinen Stil genau diese Atmosphäre zu vermitteln. Seine Sätze sind präzise, schnörkellos, aber gerade deswegen ungemein dicht und ausdrucksstark.
Besonders beeindruckt eine Szene an Bord des Schiffs von Barrøy, als man unvermutet einen Hai entdeckt, jagt und fängt. Diese Szene ist so bildhaft, so dramatisch und so anschaulich beschrieben, das fasziniert und fesselt.
Dennoch reicht in meinen Augen diese Fortsetzung nicht ganz an das vorige Werk „Die Unsichtbaren“ heran, das wirkungsvoller und spannender war als das vorliegende. Aber das ist Klagen auf hohem Niveau.
Roy Jacobsen: Die Kinder von Barrøy.
Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs & Andreas Brunstermann.
C.H. Beck, August 2021.
270 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.