Immer mehr wird Extremsport zu einem Lebensstil hoch stilisiert. Der Nervenkitzel, ein vom Sport durchtrainierter Körper und dazu die teure Spezialkleidung nebst Ausrüstung vervollständigen ein Bild von dem freien, erfolgreichen Menschen, der an den seltsamsten Orten die seltsamsten Herausforderungen sucht. In dem Roman „Niedergang“ von Roman Graf üben sich der Schweizer André und die Ostdeutsche Friederike, die sich Louise nennt, im Klettern. Freeclimbing als Freizeitbeschäftigung, gut geschützt in Hallen, soll sie auf eine ganz bestimmte Bergtour vorbereiten. Mit dem antrainierten Schwierigkeitsgrad 6 bis 7 müsse die Tour zu schaffen sein, denkt André und beginnt ganz nach Schweizer Art präzise zu planen.
„Am höchsten hinauf, am weitesten kommt, wer mit der Natur verschmilzt, dachte André; das schlechte Wetter muss man sich zum Verbündeten machen.“ (S.9)
Das schlechte Wetter am ersten Tag ihrer Wanderung verändert vor allen Dingen die Stimmung und Motivation von Louise. Nebel und Regen treiben das Paar auseinander, so dass André im immer größer werdenden Abstand vor seiner Freundin herläuft. Am zweiten Tag scheint die Sonne, und es sieht so aus, als würde alles gut.
„… Er war auch müde, hatte auch schlecht geschlafen, hatte auch Muskelkater, und er war es leid, sich um Louise kümmern zu müssen. …, weil sie im Weg stand, …, sich … so ungeschickt anstellte …“ (S. 105)
Doch um an das Ziel der Route zu gelangen, muss nach einem mehrstündigen harten Aufstieg, ein langer, enger Schacht mit schwerem Rucksack bezwungen werden. Nach fünf Minuten gibt Louise auf, und André steht alleine da mit seinem Ehrgeiz und seinen Plänen. Den Berggipfel, so glaubt er, kann er nur noch erreichen, wenn er alleine weiterklettert.
Dem Autoren Roman Graf, geboren 1978 in Winterthur, ist mit seinem neuen Roman „Niedergang“ ein großartiger Wurf gelungen. Sprachlich vollendet mit einer kontinuierlich ansteigenden Spannungskurve seziert er einen vom Ehrgeiz getriebenen Charakter und dessen Geschichte von der als beglückend empfundenen Abhärtung bei den Pfadfindern. Beeindruckend sind die spannende Klettertour und die damit einhergehende Entfernung zweier Menschen, die sich lieben. Die unaufhaltsame Annäherung eines möglichen Unglücks macht diese Lektüre zu einem Pageturner, den man so schnell nicht vergisst.
Roman Graf: Niedergang.
Knaus, August 2013.
208 Seiten, Gebundene Ausgabe, 17,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.