Sommer 1963 in einem amerikanischen Städtchen: Florine ist noch nicht einmal zwölf Jahre alt, als ihre Mutter spurlos verschwindet. Es passiert in einem Sommer, der für das junge Mädchen aufregend ist und zwischen sie und ihre Freunde eine unüberwindbare Wand zieht. Warum verschwand die Mutter vom einen auf den anderen Moment ohne ein Wort des Abschieds? Florines Vater macht sich große Vorwürfe, sucht Trost beim Alkohol und lässt so seine Tochter unweigerlich im Stich. Während er in Stella, einer hübschen Frau aus dem Städtchen, neue Hoffnung schöpft, ist sie Florine verhasst und sie sucht nach ihren ganz eigenen Methoden, mit dem Verlust umzugehen. Die Nähe zu ihrer Großmutter wird stärker und schließlich zieht sie auch in deren Haus. Aber das Verschwinden der Mutter hat ihr eine Wunde verursacht, die sie nicht ignorieren kann.
Florines Leben verläuft bis zu dem Verschwinden ihrer Mutter in geregelten Bahnen. Sie lebt mit ihrem Vater Leeman und der Mutter Carlie in dem Küstenstädtchen The Point und macht sich über die Zukunft nur selten Gedanken. Am Horizont naht anfangs drohend die Pubertät, die sich allmählich ihrer kleinen Clique, bestehend aus zwei Jungs und zwei Mädchen, bemächtigt. Zwischen ihnen bahnen sich kindliche Romanzen an und sie entwickeln unterschiedliche Interessen, was immer mehr einen Keil zwischen die einstigen engen Freunde treibt. Mit dem Verlust der Mutter bekommt Florine die Bedeutung des Lebens und all seiner Freuden und seines Leides am eigenen Leib zu spüren. Gerade in dem Moment, in dem sie ihre Mutter am stärksten brauchen würde, verschwindet Carlie spurlos. »Rubinrotes Herz, eisblaue See« begleitet das Mädchen auf seiner Wandlung zur jungen Frau mit eigenen Interessen und Wünschen. Diesen Weg bestreitet sie ohne die Mutterfigur und auch abgewandt vom Vater, dessen neuen Lebensstil Florine nicht verstehen mag.
Anfangs sind die Zeilen von Leichtigkeit und einem sommerlichen Lebensgefühl bestimmt, aber alle Zeichen deuten auf einen raschen Wechsel hin – und auch dieser bedient sich dem Motiv der Jahreszeiten. Florine wird mit dem tiefen Einschnitt in ihr Leben ein Blatt im Wind und auf der tosenden See im Herbst, verkriecht sich schließlich ganz und lässt sich vom Winter einnehmen. In diesem toll geschriebenen Roman, der immer sehr von den jeweils vorherrschenden Stimmungen abhängt, steckt ein hoher Symbolgehalt, der in den beiden Elementen des Titels – dem rubinroten Herz, das Florine von Carlie bleibt und der eisblauen See – gipfelt.
Der Verlust wird vor allem aus Florines Perspektive beschrieben, sie nimmt aber gleichfalls den Vater wahr, der ebenfalls mit dem Verschwinden seiner geliebten Frau zu kämpfen hat. Die Großmutter väterlicherseits versucht sich als Vermittlerin und zwei weitere Frauen stehen zwischen Tochter und Vater: Patty, eine Freundin Carlies, die im Verdacht steht, mit deren Verschwinden etwas zu tun zu haben, und Stella, die neue Freundin Leemans. Carlie wird zum Mittelpunkt all dieser Figuren, ja, sogar Stella fühlt sich immer wieder unfreiwillig mit ihr konfrontiert, sei es durch Florines Anfeindungen oder den Schatten, der über ihrer Beziehung zu Leeman liegt. Unter dem Einfluss dieser Menschen muss Florine erwachsen werden, schneller als geplant und ohne die Mutter. Morgan Callan Rogers gelingt eine leicht zu lesende Geschichte, die zu Herzen geht, ganz ohne nervenzerreißende Spannungsmomente fesselt und Aufmerksamkeit verlangt. Die Protagonistin begegnet den Lesern und Leserinnen sehr für sich einnehmend und mit leiser Stimme.
In Verbindung mit dem Symbolgehalt vieler Szenen und dem idyllischen Leben in der Küstenstadt entsteht insgesamt ein atmosphärisch dichtes Bild von einer Familie und der Entwicklung eines Mädchens zur jungen Frau. Ein empfehlenswertes Buch, das seine Leser und Leserinnen so schnell nicht wieder loslässt.
Morgan Callan Rogers: Rubinrotes Herz, eisblaue See.
mare, Juli 2010.
432 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Janine Gimbel.
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