Beängstigend gut: Ein Roman, der das Thema „Kälte“ sprichwörtlich in jeder Zeile verkörpert – und unbewusste Endzeitszenerien als Parallele zur aktuellen Situation zwischen Klimawandel und Corona hervorruft. Wer schon bei „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ der Faszination des ewigen Eises erlegen ist, darf diesen schaurig-schönen Roman nicht verpassen. Die weiblichen Protagonistinnen der Geschichte kämpfen sich durch zwei unwirtliche Settings. Erstens: ein unbewohnter Eisplanet in der Zukunft. Zweitens: Grönland im ausgehenden 19. Jahrhundert. Meisterlich verwebt der Autor die beiden Plotebenen miteinander, legt Fragmente, Szenen, Gedanken, Erinnerungen, Märchenhaftes und Wissenschaftliches wie Puzzleteilchen aneinander. Wir Leser werden in ein weißes Nichts geworfen, das eigenen Naturgesetzten folgt. Hier herrscht nicht der Mensch über die Materie, hier kämpft er im Würgegriff gnadenloser Elemente ums nackte Überleben.
Gleich die ersten Seiten des Romans treiben uns eiskalte Schauer über den Rücken. Die Biologin Elaine erwacht in einer unbekannten Umgebung. Der Boden bedeckt von Eis und Schnee, der Himmel verdunkelt durch graue Nebelwände, durch die ein diffuses Licht hindurchscheint. Hier kann nichts Lebendiges gedeihen. Elaine ist mutterseelenallein. Nach und nach kommt die Erinnerung zurück an ein nicht minder schreckliches Szenario. Die Erde wurde durch einen Kometeneinschlag zerstört. Als Fachfrau für Rekonstruktionsbiologie gehörte sie zu den wenigen Auserwählten, die auf einer bemannten Raumfahrtmission einen erdähnlichen Planeten neu bevölkern sollten. Doch etwas scheint schiefgelaufen, die Mission vom ursprünglichen Kurs abgekommen und abgestürzt zu sein. Elaine gibt nicht auf. Denn ihre eigene Vergangenheit hat sie bestens auf dieses apokalyptische Szenario vorbereitet. Als eine Nachfahrin der Inuit verbrachte sie als Kind viel Zeit mit ihrem Großvater auf Grönland. Er hat sie gelehrt, bei minus fünfzig Grad zu überleben, Nahrung zu finden, die Körpertemperatur aufrecht zu erhalten. So macht sich Elaine mit den letzten Vorräten auf, den rauen Planeten zu erkunden. Bald beschleicht sie ein weiterer unglaublicher Verdacht…
Um mental nicht dem Wahnsinn zu verfallen, ruft sie sich die Legende um „Uki“, einer ihrer Vorfahrinnen ins Gedächtnis. Ihre Geschichte bildet den zweiten Teil des Romans. Die später mächtige Schamanin bricht als junge Frau von Grönland mit einem norwegischen Entdecker gemeinsam nach Amerika auf. Grund: Sie will die „Weiße Stadt“ besuchen. Dies ist ein vollständig elektrifiziertes Areal auf der Weltausstellung 1893 in Chicago. Dabei begegnet ihr Nikolas Tesla, sie entdeckt Schönes und erfährt Fürchterliches…
Licht wird zu einem starken Symbol des Romans, steht für Neubeginn und Untergang in einem. Die „Weiße Stadt“ mit ihren elektrischen Lichtern verkörpert den Aufbruch ins technologische Zeitalter, das den Klimawandel zur Folge haben wird, der wiederum das arktische Eis zum Schmelzen bringt und das Ende der ursprünglichen Inuit-Kultur einleitet. Das hell leuchtende Gestirn am Firmament, der tödliche Komet, löscht wiederum die Zivilisation aus. Immer wieder schafft Stavarič dabei Dejá-Vus, die Gänsehaut bereiten. Die Menschheit wird in diesem die Jahrhunderte umspannenden Roman stets auf sich selbst zurückgeworfen. In Notzeiten haben zahlreiche Naturvölker wie die Hopi-Indianer oder die Aborigines zu drastischen Mitteln gegriffen, um alte oder schwache Menschen auszusortieren und das Überleben der Jüngeren zu sichern. Die Alten der Inuit wurden zum Beispiel „unsichtbar“ gemacht. Man gab ihnen nichts mehr zu essen, bis sie verhungerten. Auch Jahrhunderte der „Hochzivilisation“ später hat sich nichts geändert. Der Kapitän des Raumschiffes muss entscheiden, wer einen Platz in den Schlafkokons erhält, um mittels Kryoschlaf Jahrhunderte bis zur Landung auf dem neuen Planeten zu überleben – und wer zum Sterben zurückgelassen wird.
Stilistisch ist dem vielfach ausgezeichneten und in Wien lebenden Autor ein wahres Bravourstück gelungen. Geradezu poetisch beschreibt er zum Beispiel die Rotationsklänge der einzelnen Planeten (im Anhang des Buches findet sich ein YouTube-Link, um die Aufnahmen live anzuhören). Begriffe aus dem Inuit-Dialekt schreibt er sowohl in gesprochener Sprache, als auch in Zeichensprache nieder. Er führt uns derart lebhaft durch die Weltausstellung in Chicago, dass wir Leser das Gefühl haben, er wäre tatsächlich dort gewesen. Was die Kälte im Körper anrichtet, beschreibt Stavarič gnadenlos gut. Regelmäßig lässt er reale Begebenheiten sowie interessantes Wissen aus dem Bereich der Fauna und Flora geradezu lexikalisch in die Geschichte einfließen. Wer hätte gedacht, dass ein Ochsenfrosch niemals schläft und eine Fledermaus ganze 20 Stunden pro Tag?
Fazit: Fremdes Licht ist gnadenlos gut. Ein Roman, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt und dabei gleichzeitig niemanden kalt lässt. Denn Stavarič stößt die großen Fragen an: Was macht den Wert des Lebens aus? Warum ist alles mit allem verbunden? Wo steht der Mensch im Spannungsverhältnis zwischen Fortschritt und Natur? Wie reagiert er in Notzeiten? Ein Roman, der ganz unbewusst auch hervorragend zur aktuellen Situation passt. Ein wahrer Lichtblick am Literaturhimmel!
Michael Stavarič: Fremdes Licht.
Luchterhand Literaturverlag, März 2020.
512 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.