Marc-Uwe Kling: Views

Eigentlich möchte BKA-Hauptkommissarin Yasira Saad nur ihr schlechtes Date genießen und eine kleine Auszeit von der Arbeit haben. Doch dann wirft ein brutales Video ihre Pläne durcheinander. Darin sieht man, wie die 16-jährige Lena Palmer, die am Vortag verschwunden ist, von drei Männern vergewaltigt wird, dem Eindruck nach sind es Flüchtlinge.

Yasira bekommt den Fall zugeteilt – politische Gründe. In den nächsten Tagen versucht sie mit aller Kraft, das verschwundene Mädchen zu finden, aber es ist nicht der Kriminalfall allein, der ihr den Schlaf raubt. Das viralgehende Video löst eine Welle der Empörung aus und rechte Gruppen nutzen es wachsend als Rechtfertigung für Hass und Hetze, die sich irgendwann nicht nur auf die Onlinewelt beschränkt.

Es geht nicht mehr nur darum, das verschwundene Mädchen zu finden, sondern darum, die aufgebrachte und kippende Gesellschaft von drohender Selbstjustiz abzuhalten. Ein immer unmöglicher scheinendes Verfangen, in dem bald auch Yasira selbst um ihr Leben fürchten muss.

Dieses Buch lässt mich enorm zwiegespalten zurück. Zum einen habe ich gerade einen spannenden Thriller über die problematische Spaltung der Gesellschaft gelesen, der wirklich überragend gut geschrieben ist und mich über zwei Tage hinweg gefesselt und fasziniert hat. Zum anderen bin ich jetzt nach dem Lesen trotzdem enttäuscht und ich habe versucht, zu rekonstruieren, warum das so ist:

Die Handlung lebt von einer sich stetig steigernden Ereigniskette, ein verschwundenes Mädchen führt an die Grenzen eines Bürgerkrieges, in dem der Rechtsstaat versagt. Genutzt werden aktuelle Themen wie die unkontrolliert schnelle Entwicklung von KI-Technologien und die Gefahren des Internets, sowie Rassismus und lebensgefährliche Vorurteile. Die Ereignisse schaukeln sich unkontrolliert schnell immer weiter nach ob und enden in einer brutalen Situation – die aber als finale Pointe so nicht funktioniert.

Ab hier Spoiler: gegebenenfalls bitte diesen Absatz überspringen. Die Protagonistin wird am Ende selbst vergewaltigt; aus einem paradoxen und sinnlosen Grund. Und während das für die Figur selbst der Höhepunkt der Gewalt und des Hasses sein mag, ist es das für den Plot nicht. Denn es gibt Männer, die Frauen vergewaltigen und – Überraschung! – das IMMER aus paradoxen und sinnlosen Gründen, gibt es doch keinen Grund, so etwas zu rechtfertigen. Aber gerade diese Beweggründe der Vergewaltiger werden als der schockierendste Aspekt der Handlung und Höhepunkt der Eskalation dargestellt, was sie aber einfach nicht sind. Das Ende kommt entsprechend einfach nur brutal und unnötig rüber, das Schockmoment hat der Leser bereits an der Stelle, wo der Protagonistin entsprechende Handlungen angedroht werden, um Lena zu rächen.

Ein gelungener Psychothriller verliert durch sein brutales Ende seine sensible Darstellung aktueller Gesellschaftsstrukturen. Insgesamt hätte der gesamte Plot besser als Kurzgeschichte funktioniert, denn so fühlt es sich beim Lesen an.

Dicke Pluspunkte bekommt der Schreibstil, denn das Buch ist einfach ungeheuer gut geschrieben. Kling schafft den Sprung zum neuen Genre mit gefühlter Leichtigkeit und fesselt, schockiert und unterhält in seinem neuen Roman. Es schadet nicht, dieses Buch zu lesen, denn vieles ist wirklich gelungen, auch wenn mich persönlich das Ende nicht überzeugt hat.

Marc-Uwe Kling: Views.
Ullstein, Juni 2024.
272 Seiten, gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Isabella M. Banger.

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