Der fünfzehnjährige Zeno sitzt auf einer kleinen Insel im Jugendgefängnis fest. Er kann nicht schwimmen, und das unüberwindbare Meer verabscheut er.
Als ihm seine Lehrerin Anregungen zum Nachdenken und eine besondere Aufgabe gibt, beginnt bei Zeno eine Zeit der Selbstreflexion. Er soll über seine Erlebnisse und Gefühle schreiben. Also fängt Zeno an, über sein Leben zu berichten, wie es um ihn steht und er so nach und nach verschiedenen Auflagen nachkommt, damit er über Weihnachten zwei Tage bei seiner Mutter verbringen darf.
Und während er nachdenkt, schreibt und über das Leben philosophiert, ist seine Fantasie erwacht. Zeno beginnt das Meer zu lieben.
Francesca Maria Benvenuto, Autorin und promovierte Anwältin für internationales Strafrecht, stammt aus Neapel und arbeitet inzwischen in Paris. Sie hat mit ihrem Debüt über ein „fiktives“ Ereignis vor 33 Jahren ein Tor geöffnet, das für Außenstehende kaum begreifbare Lebensumstände offenbart.
Der jugendliche Zeno lebt im berüchtigten Forcella, einer Region von Neapel, in der die Camorra herrscht. Zeno sagt über sich, er habe schon als Baby groß und stark sein müssen. Und es sei besser gewesen, erst gar nicht geboren worden zu sein oder in besseren Verhältnissen. Er lebt auf der Schattenseite der Camorra, die arme Kinder zu Straftaten zwingt, damit deren Familien nicht hungern müssen. Für den zehnjährigen Zeno ist Ciros Angebot, als Kurier zu arbeiten, letztendlich eine Frage, die er nur mit Ja oder Ja beantworten kann. Zu den allseits bekannten Konsequenzen sagt Zeno ebenfalls Ja, weil ihm die Perspektive für eine Zukunft fehlt.
Erst im Gefängnis träumt er von einem normalen Leben als Hungerleider. Zurzeit sieht er seine Situation ganz nüchtern: Bis zu seiner Volljährigkeit wird er im Jugendgefängnis bleiben, und danach für sehr lange Zeit in einem Gefängnis für Erwachsene einsitzen. Wenn er dann irgendwann entlassen wird, ist er noch einigermaßen jung, um neu anzufangen.
Der Ich-Erzähler Zeno schreibt so, wie er es mit wenig Schulbildung gelernt hat, und trotzdem oder gerade deshalb besitzt der von der Lehrerin leicht korrigierte Bericht eine natürliche Wucht, die man mit gewählten Worten kaum erreichen kann.
„In den Gassen gibt es aber auch anständige Leute, nicht alle sind kriminell wie ich oder Ciro. Das muss ich auch schreiben, das ist nur richtig. Die Anständigen tun keinem weh, malochen und haben nicht mal ne Knarre im Haus. … Vielen von denen geht das alles tierisch auf die Eier, wie wir noch Kinder sind und der Tod schon unser Freund.“ (S. 125)
Fazit: Ein packender Bericht, den man so schnell nicht vergisst.
Francesca Maria Benvenuto: Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer
Übersetzt von Christine Ammann
Kunstmann Verlag, August 2024
176 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.