Lukas Hartmann: Martha und die Ihren

Martha wurde vor dem Ersten Weltkrieges in einem Schweizer Dorf geboren. Ihr Vater ist Brunnenbauer und lebt mit seiner Familie in einem Haus für Tagelöhner. Als Marthas Vater nach einem Unfall nicht mehr auf die Beine kommt, leidet die ganze Familie große Not. Nach seinem Tod verlieren sie das Wenige, das sie noch besitzen: Martha und ihre fünf Geschwister werden auf fünf verschiedene Bauernhöfe verteilt. Sie sind jetzt Verdingkinder und haben den gleichen sozialen Status wie das Vieh.

Marthas Leitfaden wird aus dem Wunsch geboren, immer fleißig und gehorsam zu sein. Dann würde es in ihrem Leben irgendwann aufwärtsgehen. Und trotzdem …, wenn es nach den üblichen Regeln ginge, müsste sie für den Rest ihres Lebens den Stempel Verdingkind tragen.

Lukas Hartmann, 1944 in Bern geboren, gehört zu den bekanntesten Autoren in seinem Heimatland. Der Roman Martha und die Ihren ist die Interpretation seiner Familiengeschichte und seiner Wurzeln. Die Gespräche mit der Großmutter Martha machten ihm bewusst, „… dass sie von einem Land erzählt, dem der Krieg erspart geblieben war, nicht aber dessen Auswirkungen auf die Nachkriegsgeneration.“ (S. 296)

Martha vererbte ihren unbändigen Überlebenswillen an ihre Kinder und Kindeskinder, aber auch die Folgen eines arbeitsreichen Lebens, in dem die Liebe keinen Platz hat. In einer Szene überlegt die Schwiegertochter, ob sie die inzwischen altersschwache Martha in ihrer Familie aufnehmen möchte, obwohl sie nie mit ihr warm geworden ist. Sie bleibt bei ihrer ablehnenden Haltung, weil jede Generation sich um sich selbst kümmern sollte.

Genau hier wird der Abgrund zwischen den Generationen sichtbar. Die Unfähigkeit zu lieben und gleichzeitig das Erbe anzutreten, dem eigenen Kind den Weg in eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Feinfühlig und packend erzählt Lukas Hartmann über eine fiktive Familie, die die Seine sein könnte und baut damit eine generationsübergreifende Brücke zu mehr Verständnis und Nachsicht.

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren
Diogenes Verlag, April 2024
304 Seiten, Hardcover Leinen, 25,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.