Liesbet Dill: Tagebuch einer Mutter (1943)

Olivias Leben beginnt märchenhaft. Sie darf behütet und beschützt ihren Neigungen folgen. Von allem ist genug da, so dass sie mühelos in die Rolle der Ballkönigin schlüpft und als gute Partie gilt. Und wie im Märchen verliebt sie sich in den schönsten Mann, der wiederum sie liebt.

Auf das reale Leben ist sie jedoch nicht vorbereitet. Ihr Mann stirbt im Ersten Weltkrieg. Von jetzt auf gleich steht Olivia mit ihren vier Kindern alleine da. In Zeiten großer Unsicherheit ist für sie und ihre Kinder der soziale Abstieg sicher. Ohne Eltern, mit der geldvernichtenden Inflation und der geringen Witwenrente wird ihr Alltag mühselig. Auf die harte Tour lernt Olivia den Pfennig umdrehen und vieles mehr.

Die Autorin Liesbet Dill (1877-1962) wurde im Saarland geboren. Ähnlich wie Olivia wuchs sie in begüterten Verhältnissen auf. Neunzehnjährig wurde sie mit einem 36-jährigen Mann verheiratet. Die arrangierte Ehe machte sie so unglücklich, dass sie Mann und zwei Söhne verließ. Nach der Scheidung verdiente sie ihr tägliches Brot mit dem Schreiben. Sie schrieb über 100 Romane, die häufig die unfairen Lebensbedingungen der Frauen thematisieren. Ihre letzten Romane wurden der Kategorie trivial zugeordnet, so dass ihr Gesamtwerk, teilweise international veröffentlicht, herabgestuft worden ist. Liesbet Dill geriet in Vergessenheit.

Ihr noch immer aktueller Roman Tagebuch einer Mutter erschien erstmalig 1943. Im Zentrum steht die Erzählerin Olivia Nordeck, die den Ersten und Zweiten Weltkrieg erlebt und unter extremen Bedingungen vier Kinder alleine durchbringen muss. Theoretisch hätten die reiche Verwandtschaft oder reiche Freundinnen helfen können, doch diese sind tot oder so mit sich selbst beschäftigt, dass eine tiefgreifende Unterstützung ausbleibt. Nach und nach versetzt Olivia ihre Wertgegenstände, sofern ihre undressierten Kinder sie nicht aus Versehen im Spiel zerschlagen. Auch ihre eigene Garderobe arbeitet Olivia für die heranwachsenden Töchter um. Jedes Stück Stoff findet an der Nähmaschine einen neuen Platz, um die Kinder immer wieder einzukleiden. Olivia ist eine Pelikan-Mutter geworden, die ihre Kinder von ihrem eigenen Blut nährt.

Eines Tages schreibt die musisch und künstlerisch begabte Olivia aus einer Laune heraus ihr erstes Gedicht. Aus der gleichen Laune heraus schickt sie es einer Zeitung, die die Zeilen druckt und bezahlt. Hiervon kauft sie Lebensmittel. Weitere Honorare helfen die Kostenlast des Alltags zu bewältigen.

Die Herausgeberin Magda Brinkmann schreibt in ihrem Nachwort: „Dills Stärken lagen in lebensnahen Dialogen, genauer Figurenzeichnung, einem scharfen, realistischen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse und zwischenmenschlicher Beziehungen, … und nicht zuletzt in der gelungenen Mischung aus Ernst und Humor, welche ihre Romane so vergnüglich und berührend macht.„ (S. 427, 428)

Aus diesem Grund passt dieser Roman bestens in die Reihe rororo Entdeckungen.  Die Autorin hat in Oliva eine sympathische Erzählerin geschaffen, so dass man ihr nicht nur gerne durch schwere Zeiten folgt, sondern auch emotional tief berührt wird. Und am Ende der Lektüre bleibt die Erkenntnis, wie viel und zugleich wie wenig sich für alleinstehende Frauen geändert hat.

Liesbet Dill: Tagebuch einer Mutter (1943).
rororo, Mai 2024.
432 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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