Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen

Die Schriftstellerin Leïla Slimani (Jahrgang 1981) schreibt an einer Trilogie ihrer Familiengeschichte. Der erste Teil „Das Land der Anderen“ aus dem Jahr 2021 war ein großer Erfolg. Am 21. September 2022 ist die Fortsetzung „Schaut, wie wir tanzen“ in einer Übersetzung von Amelie Thoma im Luchterhand Literaturverlag erschienen.

Im Frühling 1968 lässt Amine Belhaj einen Swimmingpool in den Garten seiner Farm bei Meknès in Marokko bauen. Amines Farm gedeiht, König Hassan II. regiert und Mathildes und Amines Tochter Aïcha studiert seit vier Jahren Medizin im französischen Straßburg. Selim, Aïchas jüngerer Bruder, geht noch zur Schule und ist ein ausgezeichneter Schwimmer.

Aïcha nimmt ihr Studium sehr ernst und arbeitet viel. Sie interessiert sich nicht für Politik und die Studentenunruhen. Als sie nach Marokko zurückkehrt, trägt sie Minirock und hat sich die Haare glätten lassen. Amine ist entsetzt und Mathilde sagt: „Du hast dich so verändert. Ich hätte dich nicht erkannt.“ (S. 70)

Über ihre Freundin Monette und deren Freund Henri, einem Professor für Wirtschaftswissenschaften, lernt sie Mehdi Daoud kennen, den alle nur „Karl Marx“ nennen. Er will das Land verändern.

Selma, Amines Schwester, leidet in ihrer Ehe mit Mourad und hasst ihre Tochter Sabah, die sie ungewollt bekommen hat.

Amines Bruder Omar arbeitet bei der Geheimpolizei und sorgt für die Verhaftung und Folterung von Regierungsgegnern.

Selim, der sich von seinem Vater missachtet fühlt, schließt sich einer Gruppe von Hippies an, landet mit ihnen in Essaouira und beschließt nach New York zu gehen. Mathilde und Amine werden behaupten, er sei zum Studium in Frankreich.

Nachdem Mehdi unabgesprochen und spontan bei Amine um Aïchas Hand anhält, will sie nichts mehr von im wissen. Er steigt zum Regierungsbeamten auf. Und am Ende heiraten die beiden. Aber wird Aïcha auch glücklich werden?

Leila Slimani erzählt die Geschichte der Familie Belhaj ab dem Ende der 1960er Jahre weiter: in Europa wollen die jungen Leute den Mief der Nachkriegszeit hinter sich lassen, die freie Liebe erproben und gegen den Vietnamkrieg protestieren. Marokko fällt nach seiner Unabhängigkeit in traditionelle Strukturen zurück. Männer regieren das Land, die Bauern bleiben arm und Oppositionelle werden eingesperrt. Der König entgeht zwei Mordanschlägen. Frauen haben wenig Rechte. Vor diesem Hintergrund richtet Slimani ein besonderes Licht auf die Frauen in der Familie Belhaj. Mathilde, die sich scheinbar mit den patriarchalischen Strukturen, ihrem untreuen Ehemann und dem verschwundenen Sohn arrangiert hat. Selma, die ihren Frust an der ungeliebten Tochter auslässt und Aïcha, die Ärztin geworden ist, aber trotzdem nicht unabhängig sein darf. Sie alle haben es schwer in einem Land, das sich zwar von seinen Kolonialherren befreit hat, in dem man jedoch „nicht alles sagen kann“ und schon gar nicht alles werden kann. Aber auch die männlichen Mitglieder der Familie spüren die Herausforderungen. So lässt Leïla Slimani an einer Stelle des Buches Aïchas Ehemann Mehdi, der einmal das Land verändern wollte, sich selbst fragen:

„Wie konntest du glücklich sein? Glücklich trotz der Attentate, der Verurteilungen, der Deportationen in geheime Keller? Glücklich trotz der Willkür, der Angst, des Geflüsters, der drohenden Ungnade?“ (S. 335)

So lebt der erfolgreiche Farmer Amine Belhaj in Angst vor dem Neid und der Missgunst der Bauern, die für ihn arbeiten. Oder so wird der Folterknecht Omar weich und hört seinen Gefangenen zu. Die Hoffnungen auf Freiheit und Fortschritt für das unabhängige Marokko erfüllen sich für den Großteil der Bevölkerung nicht.

Leïla Slimani spinnt mit „Schaut, wie wir tanzen“ den Faden der Familiengeschichte um die Belhajs erfolgreich weiter. Die unterschiedlichen Sichtweisen ihrer Charaktere fließen dabei ebenso ein wie Slimanis genauer und kritischer Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Marokko nach der Unabhängigkeit von Frankreich. Als Lesende bin ich gespannt, wie es der Enkelin ergehen wird, die am Ende dieses Buches das Licht der Welt erblickt. Und so bei ihren Großeltern Mathilde und Amine für einen glücklichen Moment sorgt.

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen.
Aus dem Englischen übersetzt von Amelie Thoma.
Luchterhand Literaturverlag, September 2022.
384 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.