Lana Lux: Jägerin und Sammlerin

Alisa steht kurz vor dem Abitur. Sie ist gut in der Schule, hat Talent zum Zeichnen, verdient mit Nebenjobs ihr eigenes Geld. Doch leider gelingt es ihr nie, den Erwartungen der anderen gerecht zu werden, vor allem nicht den Erwartungen ihrer Mutter. Denn sie ist ein unfähiger Trampel. Zu groß, zu schwer, mit Höckernase und schlechter Haut. Unfähig, die einfachsten Dinge zu tun. Die Einzige, die es langfristig bei Alisa aushält, ist Mia. Alle anderen gehen früher oder später: der Vater zurück in die Ukraine, die Mutter zu ihrem neuen Mann, ihre Freundin Mascha zur Tanzausbildung. Mia jedoch bleibt. Sie bringt Alisa dazu, unkontrolliert zu fressen – und anschließend zu kotzen. Mia ist ein Monster. Mia ist Bulimie. Sie bestimmt Alisas Leben, ihr ganzes Denken. Tag für Tag versucht Alisa, gegen sie anzukommen.

Schonungslos schildert Lana Lux die Krankheit. Die Leere im Inneren, die es zu füllen gilt, die Verzweiflung, den Ekel, den Selbsthass, die Macht der Waage, die Einsamkeit. Während einer Therapie wird Alisa empfohlen, ihre Vergangenheit für sich aufzuschreiben. Sie schafft es, in Gedanken zurück in ihre Kindheit zu gehen, zu ihrer wunderschönen Mutter, dem Vater, der nach der Auswanderung nach Deutschland im Kummer versank, zur unglücklichen Ehe der beiden. Zu ihrer Kindheitsfreudin mit der Ballerinafigur. Und sie erkennt, was sich ändern muss.

Auch Alisas Mutter schreibt schließlich ihre Geschichte auf. Es ist die Geschichte eines Mädchens mit einer verlorenen Kindheit und großen Träumen, einer Frau, die noch immer auf der Suche nach ihrem Platz im Leben ist. Beide Schicksale, das der Tochter und das der Mutter, berühren. Doch zu Beginn hastet die Autorin wie im Zeitraffer durch die Ereignisse, der Erzählstil gleicht eher einem Zeitungsbericht als einem Roman. Alisa hat Bulimie, sie leidet, aber ich leide nicht mit. Vielleicht hat Lana Lux den Stil bewusst als künstlerisches Mittel gewählt, um genau die Distanz spürbar zu machen, die oft zwischen Menschen mit Essstörungen und ihren Mitmenschen besteht. Die in Ich-Form geschriebenen Erinnerungspassagen im zweiten Teil des Buches überwinden endlich den Abstand zwischen mir und den Figuren. Die Distanz zwischen Mutter und Tochter überwinden sie nicht. Ihre Geschichten stehen nebeneinander, die Wertung überlässt die Autorin jedem selbst.

Für mich ist der Roman unvollständig, etwas fehlt, das ihn großartig machen könnte. Ich hätte mir mehr Verbindungslinien zwischen den Geschichten von Mutter und Tochter gewünscht, mehr Interaktion zwischen den Figuren. Zu welchen Erkenntnissen wären sie wohl gekommen, wenn jede die Geschichte der anderen auch nur ansatzweise kennen würde? Dennoch lege ich das Buch allen ans Herz, die Bulimie-Betroffenen in der Familie oder im Freundeskreis durch schwerste Zeiten begleiten wollen. Achtsamkeit ist dafür der erste Schritt.

Lana Lux: Jägerin und Sammlerin.
Aufbau Verlag, März 2020.
304 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.

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