Als Roswitha als Studierende endlich einen Weg gefunden hat, von zu Hause auszuziehen, weg von der auf Hochglanz polierten Kleinbürgerlichkeit, lernt sie für ein paar Jahre einen Hauch von Freiheit kennen und Mick lieben. Kunst, Literatur, der Geist von Woodstock und Partys mit reichlich Alkohol werden für die Clique um Mick und Roswitha wichtiger als strebsames Lernen. Viel zu schnell wird sie nach ihrem „erfolgreichen“ Studienabschluss in das Erwerbsleben der DDR integriert, in dem fast alles von Seiten der Behörden auf Antrag zugeteilt wird. Roswitha spielt ihre Rolle als „Werkschaffende“, heiratet und gründet eine Familie. Mick dagegen, für diese Art von Anpassung unfähig, verschwindet aus ihrem Blickfeld. Aber auch ihre beste Freundin hat Schwierigkeiten, sich anzupassen. Während sie in die Fänge der Stasi gerät und damit all ihre Freunde gefährdet, kämpft Roswitha ihre eigenen Kämpfe mit den Behörden. Der Traum von der Freiheit scheint ausgeträumt.
„… Erstmals seit ihrer übereilten Abreise gestand sie sich ein, dass sie von Mick nichts als die Adresse auf einer alten Postkarte hatte, keine Telefonnummer, keine Mail, nur eine Ortsangabe, die wie die Zahlenkombination für ein Schließfach anmutete.“ (S. 26)
Mit dreißig Jahren Verspätung folgt sie seinem Ruf nach New York. Eine Woche lang hat sie Zeit die berühmte Nadel im Heuhaufen zu suchen.
Die Autorin Kathrin Aehnlich, geboren 1957 in Leipzig, hat einen berührenden Roman über die Sehnsucht nach Freiheit geschrieben. Auf zwei Zeitachsen erzählt sie Roswithas Leben im erstickenden Sozialstaat und ihrer Reise nach Amerika, dem Land der Freiheit, das bei näherem Hinsehen unerwartete Facetten zeigt. Durch den regelmäßigen Wechsel zwischen der von der Stasi umschatteten Vergangenheit und der Gegenwart entsteht ein ungewöhnlich intensiver Spannungsbogen. Dies liegt unter anderem an den gelungenen Übergängen. Starke Charaktere und Detailwissen sorgen für eine fesselnde und zugleich bereichernde Lektüre.
Kathrin Aehnlich: Wenn die Wale an Land gehen.
Aufbau Taschenbuch, Juni 2015.
253 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.