Julie Heiland: Schicksalsjahre: Die Frauen vom Neumarkt  

Zwei Frauen, zwei spannende Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte, erzählt in zwei Zeitebenen. Ein gut geschriebener, emotionaler Roman, der zwei wichtige Abschnitte der jüngeren deutschen Geschichte durch die Geschichte dreier Frauen verbindet. Lotte, Hannah und später auch Marlene.
Erzählt wird in parallelen Strängen, zunächst nur aus der Sicht von Hannah und Lotte, später – allerdings erst gegen Ende des Romans– auch aus der Sicht von Marlene, Hannahs Mutter.

Hannah, eine junge Archäologin, arbeitet Anfang der 1990-er Jahre mit am Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche. Dabei findet sie ein Foto, auf dem eine junge Frau und ein junger Mann zu sehen sind, die sich anscheinend recht nahestehen. Das Foto ist für Hannah fast wie ein Schock. Die junge Frau hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Könnte es ihre Großmutter sein, von der sie nichts weiß und zu der sie nie Kontakt hatte, weil ihre Mutter jede Verbindung schon vor Jahren gekappt hat? Das lässt Hannah nicht mehr los, sie beginnt nachzuforschen, wer die Frau auf dem Foto ist und wo sie jetzt wohl lebt. Und falls es wirklich ihre Großmutter ist, will sie endlich auch erfahren, warum sie keinen Kontakt zu ihrer Tochter und Enkelin hat.

Parallel wird die Geschichte von Lotte erzählt, die als Trümmerfrau nach dem Krieg mit bloßen Händen die Stadt wieder mit aufgebaut hat. Lotte ist nach dem Tod ihrer Eltern bei Onkel und Tante im feudalen Hotel „Elbflorenz“ in Dresden aufgewachsen und muss miterleben, wie die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben und wie Dresden später in einer einzigen Bombennacht total zerstört wird. So intensiv sie als Trümmerfrau schuftet, so sehnsüchtig sucht sie nach Leo, ihrer großen Liebe, der vor Jahren von einer Sekunde auf die andere verschwunden ist. Lotte hat nie wieder etwas von ihm gehört. Ihre Suche bleibt erfolglos. Erst einige Jahre nach dem Krieg erfährt sie, was mit Leo passiert ist. Lottes Geschichte ist viel mehr als eine persönliche Geschichte. Wir erfahren viel über die Zeit des Nationalsozialismus in Dresden, im Wesentlichen geht es aber um die harten Nachkriegsjahre im zerbombten Dresden, um die Anfänge der DDR und die Lebensbedingungen, die nach wie vor nicht einfach waren.

Gerade für Juden, die damals in der DDR gelebt haben, war auch diese Zeit wieder mit vielen neuen Benachteiligungen und Schwierigkeiten verbunden. Lotte erlebt das hautnah mit. Ihr Partner, Jakob, hat im Krieg seine Familie, seine Frau verloren und erst durch Lotte wieder zum Leben gefunden. Jakob hat auch nach dem Krieg darunter zu leiden, dass er Jude ist. Ihre Liebe wird auf eine harte Probe gestellt. Aus Liebe zu Jakob trifft Lotte eine schwerwiegende Entscheidung, die ihr und Jakobs Leben von Grund auf verändert. Erst durch Hannahs Nachforschungen erfährt Lotte nach Jahrzehnten, was aus Jakob geworden ist.

Julie Heiland versteht es wunderbar, die historisch belegten Fakten in einen spannungsreichen Roman einzubinden. Sympathische, gut gezeichnete Protagonisten, mit denen man sich schnell identifizieren kann, deren Geschichten einen fesseln. Ein ansprechendes Cover, das einen gleich neugierig macht und eine Karte von der Dresdener Innenstadt 1939 im Buchdeckel, die die Schauplätze der Geschichte anschaulich macht. Wer Dresden kennt, findet sich gleich zurecht. Und wer Dresden vor der Wende gekannt hat, wird sicher einiges wiedererkennen.

Julie Heiland: Schicksalsjahre: Die Frauen vom Neumarkt
Ullstein, März 2024
576 Seiten, Taschenbuch, 16,99 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.

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