Nico Semsrott: Brüssel sehen und sterben

Rechtzeitig vor der Wahl im Juni 2024 erscheinen Nico Semsrotts Einblicke in die Machenschaften im Europäischen Parlament, dessen Verwaltungsapparat 8000 Menschen umfasst. Semsrott selbst ist „aus Versehen“ im EU-Parlament gelandet, wie er berichtet. Zusammen mit Martin Sonneborn wurde er von beinahe 900000 Personen für „Die Partei“ gewählt. Er betrachtete sein Antreten für die Satirepartei als Freiheit zum Experiment. Seit 2019 gehört Semsrott nun dem Europaparlament an und übt dort mit über 700 weiteren Abgeordneten den „merkwürdigsten Job der Welt“ in seinem Medien-bekannten Outfit, dem Kapuzenpullover, aus. Die Einblicke, die uns der Satiriker und Komiker gewährt, wären ganz lustig, wenn sie nicht tatsächlich wahr wären. Es geht nicht nur um unsinnige Steuerverschwendungen. Die Verstrickungen der Parlamentarier, die sich ihre Regeln selbst entwickeln, lassen nicht nur an der Ernsthaftigkeit dieser Institution zweifeln, sie sind auch schwer zu ertragen. Und das ist noch gelinde ausgedrückt. „Ertragen können muss man in diesem Beruf Dummheit, Ignoranz, Langeweile, Geld- und Lebenszeitverschwendung und krasse Ungerechtigkeiten.“ (S. 17)

Anhand von Beispielen erfahren wir, dass es für die Abgeordneten des Europaparlaments kein Kunststück ist, Korruption zu verschleiern. Die Erfahrungen, die Semsrott, der im EU-Parlament einst als Idealist antrat, um seine letzten Ideale zu retten, haben ihn schwer enttäuscht. So wurden beispielsweise immer wieder Abstimmungen über Probleme, die er selbst als elementar betrachtete, häufig von der Mehrheit mit Ignoranz abgetan.

Weiter liest man von Abgeordneten, die, obwohl sie im Gefängnis sitzen, an Abstimmungen teilnehmen und auch weiterhin ihre Diäten beziehen. Wir erfahren von opportunistischen Deals, von Dienstreisen und den entsprechenden Vergütungen, von den unsinnigen Pendeleien zwischen Straßburg und Brüssel, von vielen Privilegien die die Abgeordneten genießen, von Diebstählen im Parlamentsgebäude, von Lobby-Events oder davon, dass Realität und Versprechen nicht zusammenpassen. Die Liste von Begünstigungen und Annehmlichkeiten der EU-Abgeordneten ist lang. Die dreiste Unersättlichkeit vieler Parlamentarier, die das System des Parlaments skrupellos zu ihren Gunsten ausnutzen, verwundert nicht, schließlich gibt es keine Kontrollinstanzen.

Dennoch muss Semsrott am Ende festhalten: Ohne die Europäische Union wäre die Welt keine gute.

Nico Semsrott sieht sich selbst, mit Blick auf die Europawahl 2024, als Aufklärer in Form von Videos, seiner Homepage, bei Gesprächen und natürlich mit diesem Buch, was ihm in seiner ehrlichen, trockenen Ausdrucksform bestens gelungen ist.

Für alle, die schon immer einmal wissen wollten, wie das Europäische Parlament funktioniert und was darin alles nicht funktioniert: Bitte trotz möglicher Frustgefahr unbedingt lesen!

Nico Semsrott: Brüssel sehen und sterben: Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe.
Rowohlt Polaris, April 2024.
Taschenbuch, 352 Seiten, 12,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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