Juli Zeh: Über Menschen

April 2020. Dora steht mit einem rostigen Spaten auf dem Flurstück, welches zu dem alten Gutsverwalterhaus gehört, und gräbt um. Irgendwann soll aus der von Brombeeren und Ahornschösslingen überwucherten Fläche ein Garten werden.

Sie ist aufs Land geflohen, nachdem ihr in Berlin alles über den Kopf gewachsen war. Vor allem das Zusammenleben mit Robert war unerträglich geworden. Sie mochte sich nicht länger seinem übereifrigen Reglementierungszwang unterwerfen. Robert, der zum Klimaschützer-Guru avanciert ist, der enthusiastisch seinen Lebensstil ändert, immer bestrebt, nicht nur den eigenen, sondern auch den ´CO2-Fußabdruck seiner Mitmenschen zu reduzieren, aber zu einer Demo mit Greta Thunberg auch mal fliegt. Robert, der sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnt und Zweifel nicht duldet. Der schon ein „Aber“ als Rebellion gegen die Vernunft wertet.

Dora sind absolute Wahrheiten suspekt. Sie beharrt auf ihrem Recht, zu zweifeln und nachzufragen. „Sie hat keine Lust auf den Kampf ums Rechthaben und will nicht Teil einer Meinungsmannschaft sein.“ (Seite 21) Es wird immer schwieriger, mit Robert ein normales Gespräch zu führen. Dora empfindet das Zusammenleben mit ihm als anstrengend. Sie lachen kaum noch miteinander.

„Dann kam Corona, und Robert entdeckte seine wahre Berufung.“ (Seite 23) Als er versucht, Dora die Spaziergänge mit ihrer Hündin zu verbieten, ist für sie die Grenze erreicht. Sie packt ihre Sachen.

Das alte Gutshaus in Bracken in der Priegnitz ist ihr Rettungsanker, ihre Auszeit von all den Problemen, glaubt sie, und muss doch bald feststellen, dass auch ihre Wahrheiten auf den Prüfstand gestellt werden. In einem 200-Seelen-Dorf kann sich keiner in seiner Filterblase verstecken, man muss mit den Nachbarn auskommen. „In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben.“ (Seite 128) Im konkreten Fall ist das Gote „Ich bin hier der Dorfnazi.“ (Seite 45), der ihr ungefragt ein Bett baut und Stühle schenkt.  Gegenüber wohnt Herr Heinrich, der im Dorf Heini genannt wird und ungeniert Ausländerwitze reißt. Der Doras Flurstück mit der Motorsense in Nullkommanichts von jungen Bäumen befreit. Oder Tom und Steffen, die als Paar zusammenleben und in ihrer Firma portugiesische Studenten (O-Ton Heini: Pflanzkanacken) beschäftigen. Sie mussten sich immer mal wieder mit Gote auseinandersetzen, der lautstark vor ihrem Haus grölt und Drohungen ausstößt. Tom wählt AFD. „Die da oben behandeln uns doch wie Idioten.“ (Seite 127)

Stoff genug zum Nachdenken für Dora, die in Berlin immer unter Menschen gleicher oder ähnlicher Gesinnung war. Sie stellt fest, dass auch sie zu Schwarz-Weiß-Denken neigt, und auch, dass ihre Rassismus-Starre angesichts fremdenfeindlicher Witze kein Problem löst. Sehr sympathisch sind ihre Ansätze der Selbstanalyse, ihre Zweifel und Entdeckungen.

Die für mich wichtigste Erkenntnis kommt in einem der letzten Kapitel.

„Aber dann fallen ihr nur zwei Sätze ein, und die schreit sie heraus: ‚Und ob ich was Besseres bin! Hundertmal besser als du!‘ Gote reagiert nicht, dafür wird Dora etwas klar. Die Worte klingen richtig und es hat sich herrlich angefühlt, sie herauszuschreien. ‚Und ob ich besser bin.‘ Aber auf den zweiten Blick ist dieser Satz die Mutter aller Probleme. Am Ortsrand von Bracken und im globalen Maßstab. Ein Langzeitgift, das die ganze Menschheit von innen zerfrisst.“ (Seite 367)

Ich nicke weise und gleichzeitig fühle ich mich ertappt. Es ist dieser Satz, der verhindert, dass wir andere Lebensarten, Herangehensweisen, Vorstellungen akzeptieren und aushalten. Es ist das Dilemma vor allem derer, die alles richtig machen wollen.

Juli Zehs Buch ist der Gegenentwurf zu Polarisierung und Besserwissertum. Eine Ermutigung. Die Menschheit als „Existenzgemeinschaft“. Einfach so. Ob das geht? Man kann es ja probieren.

Juli Zeh: Über Menschen.
Luchterhand Literaturverlag, März 2021.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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