Jean-Christophe Grangé: Blutrotes Karma

Französischer Thriller? Wem fällt da nicht sofort der Name Jean-Christophe Grangé ein? Seit seinem Weltbesteller „Die purpurnen Flüsse“ ist er der Garant für hochspannende, elegant verflochtene, blutige Thriller, die häufig mit spirituellen oder politischen Hintergründen versehen sind. Gewiss, er verschont seine Leser nicht mit Brutalität. Doch das eigentlich Brutale an seinen Plots ist, dass die seltsamen Ritualmorde nicht nur der Symbolik eines irren Geistes entspringen, sondern stets ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Auch Blut im Sinne von Genetik, Erbe oder vererbten Traumata sind ein wiederkehrendes Motiv in Grangés Büchern.

Dabei spaziert der französische Autor mühelos durch Zeiten, Länder und Weltanschauungen. Nachdem er in „Die marmornen Träume“ seine LeserInnen ins Berlin der Nazi-Zeit entführt hat – bereits per se eine grausame Zeit – wirft er seine Leserschaft nun mitten ins Paris im Mai 1968. Von romantischen Frühlingsgefühlen ist in der Stadt der Liebe in jenen Tagen nichts zu spüren. Der Pariser Mai 1968 ist von den blutigen, zerstörerischen Studenten- und Arbeiteraufständen gekennzeichnet. Auf die Barrikaden hat in der französischen Geschichte schon eine lange Tradition. Doch im Mai 1968 ist das gesamte Land lahmgelegt, sogar die Versorgungslage scheint bedroht. Von der friedlichen Hippiebewegung  à la Woodstock könnte nichts weiter entfernt sein.

Algerienkrieg und Studentenrevolte

Mitten in diesen Tumulten zwischen besetzten Universitäten und brutalen Straßenschlachten findet der Geschichtsstudent Hervé die grausam zugerichtete Leiche einer Freundin – mit herausgerissenen Gedärmen in einer seltsam anmutenden Yoga-Pose arrangiert. Völlig aufgelöst bittet er seinen Halbbruder Mersch, einen Polizisten, um Hilfe. Der sympathisiert heimlich mit den Studenten, da er wenige Jahre zuvor völlig desillusioniert aus dem Algerienkrieg heimgekehrt ist. Da sämtliche Polizisten für die Niederschlagung der Aufstände benötigt werden, ermittelt Mersch mehr oder weniger im Alleingang. Leider bleibt es nicht bei einer Leiche. Kurze Zeit später wird eine zweite, ebenfalls barbarisch zugerichtete Frauenleiche aufgefunden. Ihr gemeinsamer Nenner: Beide politisch aktiven Frauen waren sowohl miteinander als auch mit Hervé befreundet, in beide Frauen war der schüchterne Student verknallt, ohne jemals Annäherungsversuche gewagt zu haben. Die Dritte im Bunde ist die schöne, rothaarige Nicole. Diese will den Brüdern helfen, den Mörder ihrer Freundinnen zu fassen. Zudem deutet vieles darauf hin, dass sie das nächste Opfer sein könnte.

Mordserie zwischen Yoga und Tantra

Bei den Ermittlungen wird das ungleiche Trio mit tantrischen Praktiken, geheimen Sekten und dunklen Familiengeheimnissen konfrontiert. Konkreten Spuren folgend, zieht es sie sogar ins Geburtsland des Yoga, nach Indien. Genauer gesagt, nach Kalkutta. Ayurvedische Wellness-Treatments sucht man hier allerdings vergebens. Dreck, Armut, ausgezehrte Gestalten, verlorene Junkies und sogar Leichenfresser bevölkern die Stadt am Ganges. Überhaupt ist Grangés Lektüre keine Werbung für Instagram-affine Reiseblogger in Paris und Indien. Er schafft es, das Dunkle, Schmutzige, Niederträchtige der Mordserie hervorragend auf die Umgebung, Stadt und Natur zu übertragen. Beispiel: „Die staubigen Bäume auf dem Bürgersteig schienen das kränkliche Bauwerk zu umarmen wie fleischfressender Efeu, der vom Todeskampf seines Wirtes zehrte.“ (S.391) Oder: „Sie waren an trostlosen, sumpfigen Dörfern vorbeigekommen, wo die Hunde den Menschen das Aas streitig machten, wo scheinbar Untote in Lehmbetten schliefen, wo heimlich Kühe herrschten und friedlich dabei zusahen, wie um sie herum das Gesinde krepierte: die Menschen.“ (S. 428)

Luzide Grenzen des Bösen

Letztendlich zeigt Grangés neuester Roman auch, wie durchlässig die Grenze zwischen „Gut und Böse“ ist. Wie leicht Religion in Fanatismus und friedlicher Protest und anarchische Zerstörungswut umschlagen kann. So ist der Roman auch eine Referenz an die Entwicklungen der heutigen Zeit, mit ihrer zunehmenden politischen Radikalisierung.

Fazit: Sie suchen ein Buch, dass Sie in einem Atemzug „durchstreamen“ können? Sie haben es gefunden. Hochspannung auf 600 Seiten, eine Verfolgungsjagd über mehrere Kontinente und eine Zeitreise ins Jahr 1968, um die dunklen Seiten der Studentenproteste ins Rampenlicht zu rücken. Ein Thriller mit Suchtpotenzial, der schlaflose Nächte garantiert.

Jean-Christophe Grangé: Blutrotes Karma.
Aus dem Französischen übersetzt von Ina Böhme.
Tropen, Oktober 2024.
608 Seiten, gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..