Javier Zamora: Solito

Ein Buch, so schön und schrecklich, wie es nur das Leben selbst schreiben kann. In diesem herzergreifenden Roman, der unter anderem mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnet wurde, nimmt uns Javier Zamora mit auf seine Flucht als Neunjähriger im Jahr 1999. Es geht von El Salvador Tausende von Kilometern nordwärts nach „La USA“, auf Booten, Trucks, zu Fuß durch die Wüste. Seine Flucht absolviert er auf sich gestellt, „solito“, ohne seine Eltern, die bereits in der USA auf ihn warten. Mit 40 anderen Personen und ein paar „Polleros“, alias Schleusern, beginnt eine beängstigende Odyssee. Unterwegs begegnet er Menschen, die es mal gut, mal schlecht mit den Migranten meinen. So ist Javier Zamoras literarisches Glanzstück ein Plädoyer für Menschenwürde, Zusammenhalt und Empathie. Extrem kraftvoll, ohne je kitschig zu sein.

Auf der Fluchtroute findet Javier eine neue „Ersatzfamilie“, zumal sich diese vor der Grenzschutzpolizei auch als solche ausgibt. Da ist Patricia, die sich mit ihrer 10-jährigen Tochter Carla zu ihrem Mann und ihrer jüngeren Tochter in die USA durchschlagen will. Da ist Chino, noch mit Akne übersät und gerade selbst erst den Kinderschuhen entwachsen, der unversehens in eine Vaterrolle hineinwächst. Er tröstet Javier, als ihm auf dem Boot schlecht wird, er trägt ihn durch die Wüste, als er nicht mehr laufen kann, er steht ihm im Gefängnis bei, während sich andere längst abgesetzt haben. So entstehen Bande, die übermenschliche Kräften verleihen, um Unmenschliches zu bezwingen.

Flucht aus Sicht eines 9-jährigen Kindes

Der Autor holt uns ganz nah an sich heran. Nicht nur, dass wir den Schweiß, Schmutz, Staub, Dreck und Durst fast körperlich spüren können. Es ist ebenso erstaunlich, wie es Zamora gelingt, wieder in sein 25 Jahre jüngeres Ich zu schlüpfen und die kindliche Perspektive der Erzählung einzunehmen. Zum Beispiel die Scham, vor erwachsenen Männern zu pinkeln oder sich noch nicht selbst die Schnürsenkel zubinden zu können. So schlurft der Junge stundenlang mit Sand und Steinchen in den Schuhen durch die Wüste, weil er sich nicht traut, sie auszuziehen. Die Gedanken seines kindlichen Alter Egos sind naiv und erwachsen zugleich, letzteres notgedrungen. Denn Javier muss Dinge erleben, die Neunjährige nicht erleben sollten. Und dabei verliert er doch nie seinen Humor, den Glauben an das Gute, an das Land der Träume zwischen Swimmingpools, McDonalds und Hollywoodfilmen.

In Zomoras Buch spritzt kein Blut, es gibt keine expliziten Grausamkeiten. Weder Vergewaltigungen noch Erschießungen, noch brutale Raubüberfälle – die auf heutigen Flüchtlingsrouten von Südamerika in die USA zum traurigen Alltag geworden sind. Sein Leiden ist subtiler, aber nicht weniger erschreckend. Er findet Worte und Bilder, die unter die Haut kriechen. Zum Beispiel als den „Vier“ auf der Flucht durch die Wüste das Wasser ausgeht. Das beängstigende Szenario einer tödlichen Dehydrierung beschreibt Javier Zamora mit folgenden Worten:

„Mir tut der Bauch weh, als würde jemand auf ihn einstechen. Ich schlurfe. Ich esse die Luft und halte sie für Nebel oder Wolken. Im gehen mache ich Kaubewegungen mit dem Mund, als hätte ich ein Fischmaul.“ (S.410)

Eine Sicht über den Grenzzaun hinweg

Einzig der Trost, dass wir dank des autobiografischen Ansatzes um ein Happy End wissen, lässt uns manche Szenen ertragen. Auch für den Autor selbst war das Schreiben dieses Romans eine schmerzliche Erfahrung. Mithilfe seiner Therapeutin habe er sich den verdrängten Traumata stellen können, um die „Quelle anzuzapfen, in der ich diese Geschichte versteckt hielt“, wie er in seinem Dankeskapitel beschreibt.

Wie gut, dass Javier Zamora dies gewagt hat. Angesichts der aktuellen politischen Lage hat sich die Situation für illegale Einwanderer aus Südamerika gegenüber dem Jahr 1999 weiter verschlechtert. Dieses Buch liefert eine andere Perspektive, auf die Menschen jenseits der Grenzschutzzäune. Es geht umTräume, Wünsche und Hoffnungen und den Erhalt der eigenen Menschenwürde. Eine schrecklich schöne, autobiografische Geschichte, die niemanden kaltlässt.

Javier Zamora: Solito.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
Kiepenheuer & Witsch, Juli 2024.
496 Seiten, gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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