Hilary Mantel kann einem Angst einjagen. Weil sie unheimlich gut schreibt. Weil sie ihre Protagonisten genüsslich in Katastrophen hineinwirft. Weil man nach wenigen Seiten feststellt, welch morbides Vergnügen dies bereiten kann. Schaudern und Schadenfreude gehen bei „Jeder Tag ist Muttertag“ Hand in Hand.
In ihrem Werk von 1985 zeigt sich bereits das Ausnahmetalent der Autorin, die mittlerweile zwei Mal mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde und von der Queen den Titel „Dame“ erhielt, obwohl sie regelmäßig gegen Königshaus und Regierung wettert, wie in ihrer Kurzgeschichten-Sammlung „Die Ermordung Margaret Thatchers“.
Zur Geschichte: Evelyn Axon lebt isoliert mit ihrer geistig zurückgebliebenen Tochter Muriel im England der Siebziger Jahre. Sie blickt voll Verachtung auf die Tochter, schämt sich ihrer. Zudem scheint das heruntergekommene Herrenhaus, in dem Evelyn früher Séancen abhielt, von Geistern bevölkert, die Evelyn drangsalieren. Völlig unerwartet wird Muriel schwanger und eine motivierte Sozialarbeiterin, Isabel Fields, versucht zu der Familie vorzudringen. Isabel hat eine Affaire mit Colin Sydney, der Abendkurse belegt, um der Ödnis seiner Ehe zu entkommen und dessen Schwester Florence gegenüber der Axons wohnt. Ihre Schicksale überkreuzen sich – mit teils furchtbaren, teils kuriosen Konsequenzen…
Evelyn und Muriel leben aneinander kettet in Hassliebe. Auch die übrigen Akteure sind unfrei und unfähig, sich davon zu lösen: Colin ist unglücklich verheiratet, sehnt sich aber in seiner Affäre, deren Tricksereien ihn nachts um den Schlaf bringen, zu seinem langweiligen Dasein zurück. Isabel ist an ihren pflegebedürftigen Vater gebunden, Frauen finanziell an die Portemonnaies ihrer Männer. Hilary Mantel, die als Sozialarbeiterin tätig war und als Gattin eines Geologen die Welt bereiste, hat die arme und die reiche Gesellschaft kennengelernt. Unglück lauert in beiden.
Der Frust entlädt sich in köstlichen Dialogen und Alltagsgemeinheiten. So schenkt Florence ihrer Schwägerin Silvia, die aus einfachen Verhältnissen stammt und mit Haushalt samt Kindern ohnehin überfordert ist, zu Weihnachten cremefarbene Stoffservietten, die gewaschen, gestärkt und gebügelt werden wollen, während Silvia der altjungferlichen Florence das Kochbuch „Zu zweit genießen. Menüs für Abende bei Kerzenschein“ überreicht.
Höhepunkt der literarischen Situationskomik ist ein Dinner der so genannten intellektuellen Gesellschaft. Mit zunehmendem Alkoholgehalt wird polemisiert und provoziert, werden Zähne in Brüsten vergraben, das Anrecht auf Klobenutzung verteidigt, Akten gestohlen. So viele fiese Spitzen bekommt man selten in der Literatur präsentiert. Ein Beispiel:
„Freut mich, Sie kennenzulernen“
„Das nenne ich mal Overstatement.“
Unbedingte Leseempfehlung! Es sei denn, sie befinden sich gerade in der aktiven Phase der Familienplanung. Dann könnte dieses Werk dazu führen, Ihr Vorhaben nochmals zu überdenken.
Hilary Mantel: Jeder Tag ist Muttertag.
Dumont, April 2016.
256 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.