Hervé Le Tellier: Der Name an der Wand

Alles beginnt mit einer Inschrift auf einer Wand. Der Autor, Hervé Le Tellier, den meisten bekannt geworden durch seinen in 44 Sprachen übersetzten Bestseller »Die Anomalie«, kauft ein Haus in der Provence und findet dort, eingeritzt in die Hauswand, einen Namen: André Chaix. Als er erfährt, dass es sich um einen Widerstandskämpfer handelt, der 1944, gerade 20 geworden, von deutschen Soldaten ermordet wurde, beginnt er zu recherchieren. Durch Zufall gerät eine kleine Kiste in seine Hände mit Liebesbriefen, ein paar Fotografien und persönlichen Gegenständen, die er die »Staubflocken aus dem Leben des André Chaix« nennt (Fotografien dieser Dokumente finden sich über die Kapitel verteilt).

Was daraus wird? Eine aufgrund des dürren, ›staubigen‹ Materials weitestgehend imaginierte Biografie. Eine Reportage. Ein Geschichtsbuch. Eine Liebesgeschichte. Eine Sammlung persönlicher Betrachtungen.

Zentrum des Geschehens ist der Ort Dieulefit im Südosten Frankreichs, im Zweiten Weltkrieg ein Zentrum des antifaschistischen Widerstands (ein Name, der fast erfunden wirkt: »Von Gott geschaffen«!). Von hier aus spinnt Le Tellier seine Fäden. Er erzählt von den Menschen dieses Dorfes, spekuliert, was Andrés Motive gewesen sein könnten, der Resistance beizutreten, ob André und Simone diesen Film gesehen haben, ob André jenen Widerstandskämpfer gekannt hat, stellt sich die Angst vor, die André befallen haben muss, als sein Trupp in einen deutschen Hinterhalt geriet.

Einfühlsame, fast zärtlich anmutende Passagen über André und seine Freundin Simone kontrastieren mit kühlen Referaten zur Weltpolitik, Schilderungen des alltäglichen Lebens mit dem Grauen des Krieges. Geradezu ikonisch steht für diesen Kontrast ein Gegenstand aus Andrés Fundsachen: eine Zigarettenspitze, die er aus einer Patronenhülse gebastelt hatte.

Seine biografische Spurensuche ergänzt Le Tellier mit thematischen Exkursen – wie der Filmgeschichte der Kriegsjahre oder sozialpsychologischen Experimenten –, und seinen Gedanken über Résistance und Kollaboration und der unzureichenden Aufarbeitung des französischen Faschismus, dessen Auferstehung er fürchtet.

Empfehlenswert ist dieses Buch allemal, allerdings mit Einschränkungen. So erfahren wir zu wenig über André Chaix, um ein komplexes Bild dieses Menschen entstehen zu lassen, zumal man nicht allen Vermutungen Le Telliers folgen möchte.

Auch können nicht alle Kapitel überzeugen. So erwähnt er in seiner relativ detaillierten Analyse der Filmgeschichte zahlreiche französische Produktionen, von denen die meisten selbst Cineasten unbekannt sein dürften, über deren Inhalt und Intention der Leser aber wenig bis nichts erfährt. Sicher macht es Sinn, die Milgram Experimente zum autoritären Charakter oder des amerikanischen Geschichtslehrers Ron Jones zur Entstehung des Faschismus (bekannt geworden durch die Verfilmungen, u.a.: »Die Welle«) in die Betrachtungen einzubeziehen. Wem sie bekannt sind, kann das Kapitel überspringen, da Le Tellier lediglich referiert, ohne neue, eigene Gedanken beizutragen. Das gilt insbesondere für das im Kontext dieses Buches wenig erhellende und eigentlich überflüssige Kapitel zur kriegstechnischen Bedeutung des Panzers.

Ein zentraler Aspekt des Buches, auch wenn er nicht immer im Vordergrund steht, ist Le Telliers Suche nach der eigenen – französischen – Identität. So heißt es am Anfang:

»Ich suchte ein ›Geburtshaus‹ […], ein Haus, in dem ich meine eigenen Wurzeln erfinden konnte.«

Die Suche bleibt erfolglos: »Ich werde niemals wissen, was ein Geburtshaus ist. […] Ich werde das Leben ohne Herkunft und ohne Wurzeln durchlaufen, schreibt er am Ende.

Man möchte ihm widersprechen, denn eines wird in seiner erzählenden Abhandlung deutlich: Selbst in grausamsten Zeiten gibt es Empathie, in größter Gefahr selbstlose Hilfe, treffen das Schlechteste und das Beste im Menschen aufeinander. Le Telliers Wurzeln (und darin könnte man seine Botschaft sehen) sind der Glaube an die nie versiegende Menschlichkeit und an die Hoffnung.

Hervé Le Tellier: Der Name an der Wand
Aus dem Französischen übersetzt von Romy und Jürgen Ritte.
Rowohlt Verlag, Mai, 2025.
160 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 €.

Diese Rezension wurde verfasst von Wolfgang Mebs.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..