Irgendwann ging es nicht mehr weiter. Die Autorin Goliarda Sapienza (1924–1996) hatte alle Karten in ihrem Leben ausgereizt, und es schien, dass all ihre Entbehrungen umsonst gewesen waren. Zehn Jahre hatte sie an ihrem Lebenswerk geschrieben, unter Depressionen gelitten, und die Verleger lehnten ihr unkonventionelles Manuskript ab. Wäre sie ein Mann gewesen, hätten die Verleger vermutlich das umfangreiche Buch herausgebracht. Aber das literarische Werk hatte eine moderne, unabhängige Frau geschrieben. Mittel- und obdachlos stand sie da, und keiner wollte sie für ihre Arbeit entlohnen. Und weil sie eine Dekade lang nur für ihr Opus lebte, gab es in dieser Zeit auch keine Veröffentlichungen, die für sie sprachen.
Goliarda Sapienza hatte also alle Karten ausgespielt und wie jeder andere lebendige Mensch Hunger und andere Bedürfnisse. Wer keine Gönner oder Spender zur Hand hat, der greift schon mal zu. Also griff sie zu und erleichterte eine Bekannte. Statt den Wertgegenstand zu versilbern, wurde sie geschnappt, verurteilt und landete 1980 am Ende des Sommers für ein paar Monate in einem römischen Frauengefängnis. Dieses hatte gerade einige Reformen durchlebt: Es gab keine Nonnen mehr als Aufsichtspersonal, und die Gefängniskleidung wurde abgeschafft. Nun regelten die inhaftierten Frauen ihren Alltag zum Teil eigenständig. Bis auf die regelmäßigen Einschließungen in den engen Zellen, dem Zwang hinter dicken Mauern und Gittern ihr jeweiliges Strafmaß abzusitzen und dem unvermeidbaren Zank, entwickeln die Frauen ihre eigene Hierarchie und Regeln, quasi einen von Frauen regierten Frauenstaat. Hier lernte Goliarda Sapienza die Mängel einer italienischen Gesellschaft kennen. Waren viele Frauen in der sogenannten Freiheit völlig auf sich allein gestellt, erfuhren sie im Knast die Geborgenheit und Unterstützung in der Frauengemeinschaft, die gleichzeitig recht schnell Fehlverhalten abstrafte.
Auf vielen Zetteln begann die Autorin ihre Erlebnisse im Gefängnis literarisch zu verarbeiten. Es entstand ein brodelndes Werk, dass die Abhängigkeit der Frauen sowohl im als auch außerhalb des Gefängnisses beschreibt. Die Freiheit der Gedanken fand sie bei den politisch gebildeten Insassinnen.
Für Goliarda Sapienza war der Gefängnisaufenthalt Segen und Fluch zugleich. Auf der glücklichen Seite der Medaille hatte sie eine trockene Schlafstelle, regelmäßige Mahlzeiten und reichlich Anregungen für ein neues Buch. Posthum finden sich heute immer mehr Fürsprecherinnen und Fürsprecher, endlich die Werke der Autorin insbesondere ihr Buch Die Kunst der Freude zu lesen. Zum Verständnis der Welt braucht man bekanntlich mehr als nur eine Perspektive.
Die Übersetzung aus dem Italienischen schrieb Verena von Koskull und das Vorwort Maria-Cristina Piwowarski.
Goliarda Sapienza: Tage in Rebibbia (1983).
Aus dem Italienischen übersetzt von .
Aufbau Verlag, April 2022.
189 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.