Gisela Stelly Augstein: Der Fang des Tages

Eine Erbschaft ist oft ein emotionales Erlebnis, unter anderem weil zuvor das Ableben eines Menschen erforderlich ist. Häufig wird der Grad der Zuneigung der Erblasserin, des Erblassers an dem Wert des zugewiesenen Erbes festgehalten. Die ganze Angelegenheit wird umso schmerzhafter, wenn die Aufteilung des Nachlasses offensichtlich manipuliert worden ist …

Im Hause Escher kommen nach dem Tod der Mutter die erwachsenen Kinder zusammen. Der Verdacht, dass bereits im Vorfeld einiges von dem Familienvermögen abhandengekommen sein könnte, motiviert die zwei Brüder und zwei Schwestern, alte und neue Konflikte aufleben lassen.

Über die kreative Autorin Gisela Stelly Augstein könnte man einige Romane schreiben: Über den Vater, der in Berlin Seidenfabrikant war, über ihr Studium in Soziologie und experimentelle Psychologie, über ihre Zeit bei der Zeit, über ihre Ehe oder über die unterschiedlichen künstlerischen Werke als Filmemacherin oder Autorin.

Bei der Lektüre spürt man recht schnell, dass die Autorin genau weiß, warum sie etwas schreibt. Man spürt ebenfalls den persönlichen Bezug zum Thema Generationenwechsel.

Seit ein paar Jahren wird in Deutschland ein großes Vermögen vererbt. Wenn es um die Fortführung eines Familienbetriebes geht, verändern sich familiäre Strukturen und unternehmerische Schwerpunkte. Vor einigen Jahren zum Beispiel thematisierten die Henkel Geschwister öffentlich den Grundstein ihres Erbes. Andere Erben fanden im Nachlass geheime Konten, die neben dem moralischen Aspekt auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich zogen.

Der Roman Der Fang des Tages von Gisela Stelly Augstein thematisiert im speziellen die Intrigen von rivalisierenden Geschwistern anlässlich einer anstehenden Erbschaft. Alex, Doro, Benjamin und Mila geraten hierbei in Konflikte, die bereits biographisch angelegt worden sind und nun in dem entstandenen Machtvakuum eskalieren.

Während im ersten Teil die erwachsenen Kinder der Familie Escher im Zentrum stehen, erzählt der Charakter Otto im zweiten Teil, wie er den gesellschaftlichen Stillstand während der Pandemie nutzt, um einen Krimi über Erbschleicher zu schreiben und seiner Freundin Larissa vorzustellen. Die Leserin, der Leser liest gemeinsam mit Larissa die sich allmählich entwickelnde Geschichte. Hierbei baut sich für die Leserin, den Leser ein weiterer Kreis von Protagonisten auf, bei dem man zeitweise den Überblick verlieren kann.

In einer Szene stellt Larissa nach ihrer Lektüre fest: „ …, in deinem Text muss es um mehr gehen als nur um rivalisierende Beutemacher … deinen Protagonisten geht es … um nichts anderes, als … unabgespeckt zu beerben …“ „Du meinst, Erben ist keine Privatsache, sondern eine gesellschaftliche Angelegenheit.“ (S. 194)

Der Umstand, dass die Macht des Geldes und deren Übergabe kein demokratischer Prozess ist und damit gleichzeitig auch eine erhebliche soziale Verantwortung übergeben wird, hätte dem Roman eine weitere Bedeutungsebene geben können.

Gisela Stelly Augstein: Der Fang des Tages
Edition Westend Verlag, September 2023
270 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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