Der Brasilianer Geovani Martins (Jahrgang 1991) wuchs in einer der Favelas von Rio de Janeiro auf, ging nur wenige Jahre zur Schule und arbeitete danach in unterschiedlichen Jobs. Sein Debüt mit dem Originaltitel „O sol na cabeça“ erschien 2018 in Brasilien und wurde ein Erfolg. In Deutschland veröffentlichte der Suhrkamp Verlag die dreizehn Kurzgeschichten am 8. April 2019 in einer Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner (Mitarbeit von Manuel von Rahden) unter dem Titel „Aus dem Schatten“.
Geovani Martins schreibt in seinen kurzen Geschichten über das Leben von Kindern und Jugendlichen in den Favelas von Rio de Janeiro. Drogen, Gewalt, Raub, Mord und Totschlag gehören dort zur Tagesordnung. Die Polizei wird verachtet und gehasst. Gangs kontrollieren die Favelas und nur der nächste Joint macht das Leben erträglich. So die wiederkehrende Botschaft aus den dreizehn Geschichten.
Sei es der Besuch am Strand an einem heißen Tag oder das Sprayen von Graffitis an den Mauern, alles wird zum Überlebenskampf für die jungen Leute. Da stibitzt einer Papas Revolver, um vor den anderen Jungs anzugeben wie in „Russisch Roulette“ oder da wird ein junger Mann von schwerbewaffneten, korrupten Polizisten kontrolliert, die ihm sein Geld wegnehmen, aber ihm das Marihuana lassen wie in „Freitag“.
In Martins‘ letzter Geschichte „Durch die Favela“ erschießt der Gangster Beto einen Koks-Kunden und will dann lieber selber getötet werden, als seine Favela verlassen zu müssen, „weil man einmal Scheiße gebaut hatte und plötzlich als Versager galt“. (S. 126)
Geovani Martins‘ Stories aus den Favelas von Rio de Janeiro sind kurz und brutal, wie das Leben dort. Und er übertreibt nicht, das kann ich als Brasilien-Reisende bestätigen. Da hält man beim Autofahren nachts in den Großstädten besser nicht an einer roten Ampel oder biegt zu Fuß nicht an der falschen Ecke ab. Da nimmt man besser nur ein Handtuch mit zum Strand. Da liest man in der Zeitung von einer Schießerei zwischen zwei verfeindeten Gangs mit mehreren Toten an einer Tankstelle, an der man nur Stunden zuvor selber getankt hat. Das ist der Alltag. Auch außerhalb der Favelas. Für die Brasilianer und für ihre Gäste.
Als Lesende fühlte ich mich an vielen Stellen von „Aus dem Schatten“ an „City of God“ von Paulo Lins aus dem Jahre 2002 erinnert. Und offenbar hat sich seitdem nicht viel verändert: der Hass auf die Polizei, die Macht der Gangs, der Konsum von Drogen, die Korruption in der Politik und die Verrohung der Menschen. Also ganz so neu ist der neue Realismus nicht, für den Geovani Martins jetzt gefeiert wird.
Aber was lernen Kinder und Jugendliche, die unter diesen Bedingungen aufwachsen und die eigentlich „Fußballspieler, Pilot oder Programmierer“ werden wollen?
In Geovani Martins‘ Geschichten gibt es kein Happy-End für sie. Nur viel Schatten in einem Land, in dem uns allen – „o sol na cabeça“ – die Sonne auf den Kopf scheint wie in einem Paradies. Unbedingt lesen!
Geovani Martins: Aus dem Schatten: Erzählungen.
Suhrkamp Verlag, April 2019.
125 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.