Franz Hohler: Fahrplanmäßiger Aufenthalt

Der Schweizer Erzähler Franz Hohler (Jahrgang 1943), preisgekrönt und bedeutend, hat einen neuen Band mit kurzen Geschichten geschrieben. „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“ ist am 16. März 2020 im Luchterhand Literaturverlag erschienen. In dem schmalen Buch finden sich 43 Erzählungen, die wenige Seiten lang sind, manchmal gar nur eine halbe.

Vor einiger Zeit hatte ich Hohlers „Ein Feuer im Garten“ aus dem Jahr 2015 gelesen, das mich nicht überzeugen konnte. Nun also neue Kurzerzählungen vom „Meister der kleinen Form“. Und gleich die erste Geschichte „Nach Europa“ schlägt bei mir ein. Darin wähne ich mich (von Hohler geschickt mit „du“ im Text angesprochen) als einen Wanderer auf Bergtour. An einem Bergsee angekommen, erlebe ich statt der Stille die Ankunft eines Schlauchbootes und kann nicht anders als zu helfen.

In der titelgebenden Geschichte „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“, die bei mir im Kopf immer wieder als „fahrplanmäßige Ankunft“ herumgeistert, nutzt der Ich-Erzähler den kurzen Stopp seines Zuges am Bahnhof zum Besuch einer Gedenkstätte für KZ-Häftlinge. Die Fragen, die der Erzähler sich stellt, bevor er zu seinem wartenden Zug zurück eilt, sind auch heute wieder aktuell: „Wo hatten sich Mitleid und Menschenliebe verkrochen in dieser Zeit?“

Auch in seinen „Tiergeschichten“ verbirgt sich Hohlers gesellschafts- und politikkritischer Blick. Er kommentiert bissig die Rettung einer Entenfamilie von einem Bahngleis angesichts verschärfter Gesetze gegen den Familiennachzug von Flüchtlingen. Oder er räumt sein digitales Archiv mit Pinguin-Fotos auf, wohl wissend,  dass sie dort neben tausenden anderer Fotos ein nicht beachtetes Dasein fristen werden.

„Allmählichkeitsschäden“ ist „ein Wort, nach dem man sich umdreht“, schreibt Hohler und meint damit, den menschlichen Alterungsprozess mit seinen Verfallserscheinungen auf den Punkt zu bringen.

Hohler erzählt von Russland, der Ukraine, von Usbekistan oder Kenia. Aber auch davon, wie ein Spaziergang durch den Wald dazu führt, sich wie ein anderer Mensch in einem anderen Land zu fühlen.

Mit der Geschichte vom „Satz des Tages“ treibt er die Kürze in seinen Erzählungen mit Humor auf die Spitze.

Franz Hohler ist „gerne Dichter“, wie er in der letzten Geschichte mit dem Titel „Dichterleben“ erklärt, und das merkt man seinen Erzählungen an: sie sind kurz, eindrücklich und überraschend. Manche ernst, viele heiter.

Franz Hohler spielt mit den Erwartungen und Assoziationen der Leserinnen und Leser. Er schreibt wortgewandt, stil- und formsicher. Und so schreibt er sich in „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“ mit diesen Kurzerzählungen in mein Herz und meinen Verstand. Unbedingt lesenswert!

Franz Hohler: Fahrplanmäßiger Halt.
Luchterhand Literaturverlag, März 2020.
112 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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