Ellen Marie Wiseman: Alles, was sie hinter sich ließ

Das letzte Schuljahr verbringt die siebzehnjährige Izzy wieder in einer neuen Schule. Mobbing und neue Freunde bestimmen ihre Tage, aber auch das Museumsprojekt ihrer Pflegemutter Peg. In Willard, einer ehemaligen Heilanstalt für Geisteskranke, will Peg den Werdegang einiger Patienten für eine Ausstellung aufbereiten. Bei der Durchsicht alter Koffer findet Izzy Claras Tagebuch. Auf einem Foto sieht die junge Frau alles andere als geisteskrank aus. Izzy wird neugierig und erfährt bei ihrer Recherche viel über eine andere Zeit und gleichzeitig über sich selbst heraus.

Ellen Marie Wisemans zweiter Roman, übersetzt von Sina Hoffmann, erschien bereits 2015 unter dem Titel Die dunklen Mauern von Willard State und legte damit den Fokus auf den Ruf der Pflegeanstallt. Der amerikanische Journalist Wyatt Redd benannte das Willard State Asylums als One Of The Creepiest Places On Earth. Dieses staatliche Pflegeheim begann seinen Dienst 1869 und beendete ihn 1995. Unter gefängnisähnlichen Bedingungen wurden dort psychisch Erkrankte und abgeschobene, unerwünschte Personen beaufsichtigt. Durch sogenannte medizinische Anwendungen, die offiziell der Heilung dienten, erlitten die Patienten unzählige Grausamkeiten. Clara wird 1930 auf Verlangen ihres Vaters wegen angeblicher Wahnvorstellungen nach Willard gebracht. In dieser Zeit sperrte man viele Frauen aus den unterschiedlichsten banalen Gründen in eine Irrenanstalt ein und dies ohne gerichtliches Urteil oder Aussicht auf rechtliche Hilfe. Die Patienten arbeiteten und lebten unter schwierigsten Bedingungen, meist bis zu ihrem unfreiwilligen Lebensende.

Als Izzy 1995 das verlassene Willard besichtigt, kreuzt sich ihr Schicksal mit dem von Clara. Nachdem ihre Mutter Izzys Vater erschossen hatte und für verrückt erklärt wurde, denkt Izzy darüber nach, wie sich das Verrücktwerden anfühlt. Schlummern in ihr die gleichen krankmachenden Gene?

Die Autorin hat in ihrem Roman zwei starke Geschichten parallel erzählt und geschickt miteinander verwoben. Sowohl Izzy als auch Clara müssen sich schlimmen Angriffen erwehren, denen sie nur ihre mentale Stärke entgegenhalten. Ellen Marie Wiseman thematisiert Machtmissbrauch und Zwangseinlieferung so plausibel und drastisch, dass man die scheinbar ausweglose Situation von Izzy und Clara wie einen realen Thriller begreifen kann. Ihre unverbrauchten Geschichten zeigen, wie wichtig ein genaues Hinsehen ist. Denn wer das Leid anderer Menschen wahrnimmt, kann auch helfen, das Ungleichgewicht zwischen Macht und Ohnmacht zu verändern. Die packende Lektüre ist nichts für schwache Nerven. Denn sie zeigt, dass jeder zu jeder Zeit in die Fänge des Machtmissbrauchs geraten oder zwangsweise in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen werden kann.

Ellen Marie Wiseman: Alles, was sie hinter sich ließ.
Piper, Januar 2020.
456 Seiten, Taschenbuch, 19,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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