Was für ein Buch. Was für eine Autorin. Ich war schon von ihren anderen Romane begeistert, die ich lesen durfte. Aber dieses hier ist wie ein Faustschlag in den Magen, wie eine eiskalte Dusche. Und man kann nur hoffen, dass es viele Menschen lesen und ihre Lehren daraus ziehen. Ich bin jedenfalls sicher, dass es noch lange nachwirken wird, dass ich noch lange darüber nachdenken werde.
Die Handlung beginnt 2019. Mélanie ist eine Mutter, die ihre Kinder, Sammy und Kimmy, vergöttert. Ihre Liebe und vor allem ihre Bewunderung für ihre Kinder sollen möglichst viele andere Menschen teilen. Und diese Menschen sollen vor allem auch Mélanie selbst lieben. Um das zu erreichen, hat Mélanie, als Kimmy gerade einmal 2 Jahre alt war, begonnen, Videos ihrer Kinder zu drehen und diese auf You-Tube zu veröffentlichen. Nach anfänglich nur gelegentlichen Filmen wird es immer mehr, bis schließlich ständig die Handykamera auf die Kinder gerichtet ist. Und die Familie unglaublich viel Geld damit verdient.
Doch eines Tages verschwindet Kimmy, kehrt vom Versteckspiel nicht zurück. Die Polizei glaubt an Entführung und setzt den in solchen Fällen üblichen Apparat in Gang. Besonders in die Ermittlungen eingebunden ist die procédurière Clara. Sie hat eine ganz andere Geschichte als Mélanie, sie führt ein komplett anderes Leben als Mélanie. Clara ist unverheiratet, hat keine Kinder und geht im Grunde völlig in ihrem Beruf auf.
Als Clara die Videos von Kimmy und Sammy anschaut, als sie erkennt, was diese ständige Zurschaustellung der Kinder bedeutet, versucht sie umso mehr, die verschwundene Kimmy zu finden. Doch wie findet man ein Mädchen, das Millionen aus dem Internet kennen?
Ein Anhang am Ende, nach der Aufklärung der Entführung, schildert Ereignisse im Jahr 2035 und zeigt die langwierigen Folgen dessen, was Mélanie ihren Kindern antat, und das, was fast das Unerträglichste dabei ist, im Glauben, für ihre Kinder nur das Beste zu wollen.
Der Roman dieser fantastischen Autorin ist so vieles: eine Abrechnung mit dem, was Eltern und was Internet und unser Umgang damit den Kindern antun; ein hochspannender Kriminalroman; das Psychogramm zweier gegensätzlicher Frauen und schließlich ein glasklares Abbild unseres heutigen Lebens.
Für dieses Buch, das ich nachdrücklich empfehle, braucht man starke Nerven – und man sollte nach der Lektüre unbedingt die eigenen Schlussfolgerungen daraus ziehen und über das eigene Verhalten in den sogenannten Sozialen Medien nachdenken.
Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige.
Aus dem Französischen übersetzt von Doris Heinemann.
DuMont Buchverlag, März 2022.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.