Wie oft habe ich mich, und da bin ich sicher nicht allein, bei Berichten und Fotos von ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer gefragt, ob die Angehörigen der Opfer jemals erfahren, was ihren Söhnen, Männern, Brüdern widerfahren ist. Wie soll es möglich sein, ihnen mitzuteilen, dass ihre Liebsten auf der Flucht nach Europa ums Leben kamen, wenn niemand weiß, wer die Ertrunkenen sind, ja wenn sie oft noch nicht einmal geborgen und erfasst werden.
Cristina Cattaneo ist eine renommierte und erfahrene italienische Forensikerin und Professorin für Rechtsmedizin und Anthropologie an der Universität Mailand. Sie ist außerdem Leiterin des Labanof (= Laboratorio di Antropologia e Odontoligia Forense). Seit vielen Jahren befasst man sich dort mit der Identifizierung unbekannter Toter, Menschen, die Verbrechen, Unfällen oder Katastrophen zum Opfer fielen, Obdachlosen, die niemand kennt und schlussendlich auch Fremden ohne Angehörige in Italien.
Hierbei gehen die Pathologen, unterstützt von Anthropologen, Forensikern, Odontologen, Polizei und Rotem Kreuz zwei Wege: zum einen werden alle Informationen gesammelt, die die Leiche liefert wie DNA, Fingerabdrücke, Tattoos, Sklettveränderungen, medizinische Befunde – bezeichnet mit PM = post mortem Informationen – und zum anderen alle Angaben, die über Vermisste bekannt sind wie Krankenberichte, Zahnbehandlungen, unveränderliche Kennzeichen, letzte Aufenthalte usw – bezeichnet als AM = ante mortem Informationen. Schließlich wird versucht, beides in Deckung zu bringen um so die unbekannten Toten identifizieren zu können. Das alles ist relativ unproblematisch, solange es sich um tote bzw. vermisste Italiener handelt. Doch wie soll man an die AM kommen bei Geflüchteten aus afrikanischen Ländern? Diese Frage stellt Cristina Cattaneo Anfang 2013, doch zu dieser Zeit ist man noch nicht bereit für solche Fragen.
Im Oktober 2013 sinken vor der Küste Lampedusas kurz hintereinander zwei Boote, beide voller Geflüchteter aus Eritrea und Syrien. Dadurch wird alles anders. Und davon erzählt Cattaneo in ihrem Buch.
Bei ihrer Arbeit wird Cattaneo und ihren Kollegen und Mitarbeitern immer mehr bewusst, dass, so banal und so furchtbar das auch klingt, die Menschen aus Eritrea, aus Syrien, aus Ghana und all den Ländern der Subsahara, dass alle diese Menschen nicht anders sind als die Europäer. Sie möchten Erinnerungen an die Heimat bei sich haben – die kleinen Päckchen Erde, die sie in ihre Kleidung binden -, sie telefonieren, sie gehen zur Schule, sie haben Sehnsucht nach Frieden, Bildung und Freiheit.
Die Forensiker begeben sich auf die Suche nach Angehörigen, die bereits in Europa sind, um von diesen die ante mortem Informationen zu bekommen. Mit deren Hilfe gelingt es ihnen in mühsamer Kleinarbeit im Laufe von mehr als sechs Jahren 38 Opfer der Unglücke von 2013 zu identifizieren. 38 von 355 Toten. 38 Familien, die nun um ihre Angehörigen trauern können und die nun, auch das ist von Bedeutung, viele Verwaltungsakte wie z.B. Adoptionen beenden können.
Dann ereignet sich im April 2015 das bislang größte Schiffsunglück im Mittelmeer mit fast eintausend Toten. Von denen nur die wenigsten sofort geborgen werden konnten, die meisten gingen mit dem Schiff unter. Erst ein Jahr später wird das Schiff schließlich gehoben und nach Sizilien gebracht, wo Cattaneo und ihr Team zusammenkommen, um die Leichen so weit möglich zu untersuchen und alle verfügbaren post mortem Informationen zu sammeln. Alle, die sie dabei unterstützen, arbeiten unentgeltlich, doch sie können auch auf die große Hilfe von Rotem Kreuz, Feuerwehr, Polizei und Militär zählen.
Wie Cristina Cattaneo die Situation an Bord des Schiffes beschreibt, wie sie von den Arbeiten der Fachleute berichtet, das verursacht Gänsehaut. Und dazu die Fotos, die sich im Buch befinden: erschütternde Fotos der Dinge, die gefunden wurden, Säckchen mit Erde aus der Heimat, Geldbörsen, SIM-Karten, Briefe, Schulzeugnisse, religiöse Andenken oder profane Artikel wie Zahnbürsten und Geldbörsen.
Dieses Buch ist wichtig. Es ist erschreckend, dass es erst dieser Bilder, die uns die Autorin vor Augen führt, bedarf, um uns bewusst zu machen, dass es Menschen sind, die dort im Mittelmeer ums Leben kommen, Menschen mit Familien, die sie vermissen. Menschen und keine Nummern.
Cristina Cattaneo: Namen statt Nummern: Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers.
Rotpunktverlag, März 2020.
220 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.