Colum McCann: Apeirogon

Apeirogon = eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten.

Colum McCann legt hier wirklich ein Meisterwerk vor. Und wie das bei Meisterwerken oft der Fall ist, so liest sich auch dieses Buch nicht einfach. Man muss sich darauf einlassen, sich einlesen und dem Roman Gelegenheit geben, sich zu entfalten. Allein die kaleidoskopische Darbietung der Handlung oder vielmehr der Handlungen ist für sich genommen schon ein Statement.

Der Autor erzählt die wahren Geschichten von zwei Männern, von Rami Elhanan und von Bassam Aramin. Jude der eine, Palästinenser der andere. Beide sind Väter von Töchtern, von verstorbenen Töchtern. Ramis Tochter Smadar starb mit 13 Jahren bei einem Selbstmordanschlag dreier Palästinenser. Bassams Tochter Abir wurde im Alter von 10 Jahren von einem israelischen Grenzpolizisten erschossen. Zwischen den beiden Todesfällen liegen 10 Jahre.

Er verpackt diese Geschichten, die gleichzeitig die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts ist, in 1001 Kapitel. Die ersten 499 vorwärts erzählt bis zur Mitte. Diese Mitte wird von zweimal einem Kapitel 500 gebildet, in welchen jeweils einer der Männer seine Geschichte mit eigenen Worten erzählt. Dazwischen wiederum gibt es das Kapitel 1001, welches auf eineinhalb Seiten die komplette Rahmenhandlung zusammenfasst. Die davon berichtet, wie Rami und Bassam sich treffen, um über ihre Töchter zu sprechen, immer wieder und immer wieder. Wie sie sich mit anderen treffen, darunter auch Colum McCann  „… um Bassams und Ramis Geschichten zu lauschen und darin eine andere Geschichte, ein Lied der Lieder zu finden, in dem sie sich selbst entdecken – du und ich, in der steingefliesten Kapelle, in der wir stundenlang gespannt, hoffnungslos, zuversichtlich, verstört, zynisch, betroffen, schweigend zuhören, während die Erinnerungen über uns hereinstürzen, unsere Synapsen tanzen und wir uns in der vordringenden Dunkelheit all die Geschichten ins Gedächtnis rufen, die noch erzählt werden müssen.“ (S.300). Danach folgen die nächsten 499 Kapitel, die rückwärts herunter zählen bis zur 1.

Diese zweimal 500 Kapitel, die mal zwei oder drei Seiten, manchmal aber auch nur eine Zeile lang sind oder mal nur aus einem Bild bestehen, wirken auf den ersten Blick wie wahllos aneinandergereiht, wie Schnipsel, herausgeschnitten aus den Lebensläufen der beiden Männer und ihrer Familien, ihrer Region, ihrer Religion. Manche Abschnitte erinnern an historische Ereignisse oder Personen, die mal mehr, mal weniger Einfluss auf den Lauf der Geschichte nahmen. Andere Schnipsel erzählen Begebenheiten aus dem Leben von Ramis oder Bassams Vorfahren, aus ihrer Kindheit. Und dazwischen erscheinen immer wieder Zugvögel, die im Nahen Osten landen. Die dort gefangen, getötet werden. Auch andere Vögel spielen eine Rolle, wie die Taube als Symbol des Friedens, der Falke, abgerichtet zum Töten.

Es ist schwer, dieses Buch in einer Rezension zusammenzufassen, denn es ist nicht zu fassen. Man muss sich mit diesem Buch auseinandersetzen, mit dieser Komposition aus vielen, teils kontrastierenden Einzelstücken, die doch am Ende ein stimmiges Ganzes ergeben. Das Buch von Colum McCann ist ein Lehrbuch über den Palästinakonflikt, ein Lehrbuch über Freundschaft, die Grenzen überschreitet, ein Lehrbuch über die Unsinnigkeit von Krieg und ein Lehrbuch über die nie enden dürfenden Anstrengungen, Kriege zu beenden und zu verhindern.

Die Lektüre von Apeirogon ist eine Herausforderung, der es lohnt, sich zu stellen.

Colum McCann: Apeirogon.
Rowohlt, Juli 2020.
608 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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