Charles Lewinsky scheint ein Gespür für außergewöhnlich perfide und dennoch sympathische Charaktere zu haben, die er mit einem interessanten Plot kombiniert. So hat er beispielsweise in seinem 2016 erschienenen Roman Andersen ebenso eine Figur mit faszinierenden und gleichsam befremdlichen Eigenschaften erschaffen wie in Der Stotterer.
Der Name des Protagonisten Johannes Hosea Stärckle klingt schon mal ebenso ungewöhnlich wie seine Geschichte: Hineingeboren in eine fromme Familie, wird ihm sein großes Handicap, das Stottern, zum Verhängnis. Züchtigungen des Vaters und des Sektenpfarrers können dem Jungen den Sprachfehler nicht austreiben.
Johannes Hosea Stärckle liebt das Lesen und noch mehr das Schreiben, denn beim Schreiben stottert er nicht. Vor allem kristallisiert sich eine herausragende Eloquenz des Stotterers in allem was er zu Papier bringt, heraus. Diese Macht weiß Johannes Hosea für sich auszunutzen. Gleichzeitig bringt ihm diese Fähigkeit mehr Fluch als Segen. Stärckle schlägt eine kriminelle Laufbahn ein, er entwickelt sich zum Betrüger par excellence. Mit seinen genau den Punkt treffenden geschriebenen Worten becirct er mit aktuell gängigen kriminellen Praktiken nicht nur die Einsamen, nach Liebe Hungernden, auch etliche alte Damen fallen auf seine Enkeltrickmasche herein. Schließlich landet Stärckle im Gefängnis. Dort vermittelt ihm der Anstaltspfarrer die Verwaltung der hauseigenen Bibliothek. Dazuhin fördert er das Talent Stärckles, indem er den Häftling auffordert, ihm via Briefverkehr seine Lebensgeschichte zu erzählen. Stärckles Briefe, die er „an den Padre“ richtet, lesen sich stimmig und interessant. (Einige Zeilen weniger hätten manchem der Briefe aber etwas mehr Gehalt verliehen). Zusammen mit Tagebucheinträgen und frei erfundenen Geschichten vervollständigt sich für die LeserInnen das Bild des Häftlings, sein Charakter offenbart sich immer tiefer. Stärckle, so merkt man recht schnell, ist keineswegs ein gewöhnlicher Krimineller. – Nicht nur wegen seiner herausragenden Sprachbegabung. Obendrein ist er eine Figur mit viel Kreativität, Intelligenz, Wortwitz aber auch treffendem Zynismus. Durch seine überaus christlich geprägte Kindheit kann er bei allen Situationen auf einen passenden Bibelspruch verweisen. Doch nicht nur dies. Vor allem Schopenhauer, den er häufig und gern zitiert, scheint es ihm angetan zu haben.
Am Ende rächt Stärckle seine eigene Opferrolle, denn er ist nachtragend. Hierbei kommt ihm zugute, dass er es versteht, mit einem langen Atem im Hintergrund Fäden zu spinnen.
Es geht um viele Dinge in diesem ungewöhnlichen, spannenden Roman: Moral, Manipulation, erfundene Geschichten, Wahrheit, Gerechtigkeit…, – vor allem aber geht es um die Gewalt und Macht der Sprache.
Charles Lewinsky: Der Stotterer.
Diogenes, März 2019.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.