Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte

Am Morgen des 3. Mai 1977 kommt die sechzehnjährige Lydia nicht zum Frühstück. Das Bett in ihrem Zimmer ist unberührt. Wohin sie gegangen ist und warum sie nie zurückkehren wird, bleibt für ihre Familie teilweise ein Rätsel. Die Eltern James und Marilyn, ihr Bruder Nath und ihre kleine Schwester Hannah müssen lernen, ohne Lydia weiterzuleben. Vorwürfe, Schuldgefühle, das Nichtgesagte wuchern in der Familie wie bösartige Geschwüre, bis sie anfangen, wieder aufeinander zu achten und miteinander zu reden.

Mit ihrem Debütroman hat die amerikanische Autorin Celeste Ng den Nerv vieler Leser getroffen. Ihr Leitthema ist die Suche nach Anerkennung und dem Finden der Balance zwischen Gruppenzwang und Anderssein.

In dem Familiendrama geht es um viel mehr als um die Auflösung des Rätsels, warum Lydia nicht mehr nach Hause kommt. Es geht um ein Überleben in einem Amerika der 60er und 70er Jahre. Während der amerikanische Traum medienwirksam den Erfolg weißer Männer präsentiert, offenbart das Land der unbegrenzten Möglichkeiten der Familie Lee eine ganz andere Seite. Es zeigt ein Gesicht, das verhöhnt, missachtet und manchmal Mitleid anbietet, während Freundlichkeit und Fairness den Weißen vorbehalten bleibt.

Am Beispiel von Lydias Eltern werden die Grenzen der Freiheit spürbar. James ist Chinese und lehrt an der Universität von Middleton. Marilyn, eine schöne Blondine, lebt das klassische Leben einer amerikanischen Frau, die ihren Traumberuf als Ärztin für Kinder und Haushalt opfern muss. Und weil die klassischen amerikanischen Ehemänner die Berufstätigkeit ihrer Frau nicht erlauben, hadert Marilyn mit ihrem Schicksal. Nun sollen die beiden ältesten Kinder den Traum der Eltern weiterleben. Dieser beinhaltet eine Gruppenzugehörigkeit, nützliche Freundschaften und Lernen für die richtige Berufswahl.

Sehr plastisch beschreibt Celeste Ng den Alltag der Familie Lee im beschaulichen Middleton, wo sie die Exoten sind. Für viele Mitmenschen ist es unvorstellbar und empörend zugleich, dass eine Amerikanerin einen Chinesen geheiratet und von ihm drei Kinder hat! Wie in einer Familienaufstellung erzählt jedes Familienmitglied aus seiner Sicht, was schief läuft. Manches wird aus der Vergangenheit erzählt, manches aus dem aktuellen Geschehen heraus. Dabei wechseln häufig die Perspektiven, um sich zu stützen und zu ergänzen. Im Laufe der traurig-schönen und zugleich auch fesselnden Geschichte ergibt sich ein Bild, das berührt.

Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte.
dtv, Oktober 2017.
288 Seiten, Taschenbuch, 10,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Ein Kommentar zu “Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte

  1. Pingback: Celeste Ng: Kleine Feuer überall | SL Leselust

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.