Carsten Henn: Der Buchspazierer

Eigentlich fangen ja alle Märchen mit „es war einmal“ an  –  dieses nicht. Und dennoch ist es ein Roman wie ein Märchen. Ein Roman von Freundschaft, der Kraft und dem Wert der Bücher, von Einsamkeit und Lebensfreude. Schon die edle Aufmachung des neu aufgelegten kleinen Buches macht Lust, es in die Hand zu nehmen und darin zu schmökern. Und dann hängenzubleiben in der Geschichte um den alternden Buchhändler aus Leidenschaft, Carl Kollhoff, der in „seiner Buchhandlung“ immer unglücklicher wird, weil Sabine, die Tochter seines Freundes Gustav und ehemaligen Besitzers der Buchhandlung, jetzt dort Chefin ist und alles anders machen möchte.

Carl möchte sie am liebsten entlassen, aber dazu ist er bei den Kunden wie bei den Mitarbeitern zu beliebt. Sie traut sich – noch – nicht. Aber sie macht ihm das Leben schwer. Carls private Auslieferungen sind ihr ein Dorn im Auge. Jeden Abend nach Geschäftsschluss packt Carl ein paar vorbestellte Bücher in seinen Rucksack und liefert sie aus an Stammkunden, die ihm lieb geworden sind.

So wie der allabendliche Weg übe den Münsterplatz, durch die engen Gassen und Sträßchen seiner kleinen Stadt. An die einsame Nonne, die sich nicht traut, das Benediktinerkloster zu verlassen, in dem sie seit Jahrzehnten lebt, weil es verkauft wurde und seiner neuen Bestimmung zugeführt werden soll, sobald sie es verlässt oder an den Mann, der jeden Tag ein neues Buch bekommt, in einem riesigen Haus ganz alleine lebt und sich scheut, Carl auf einen Tee einzuladen, an den Vorleser in einer Zigarrenfabrik oder an die ehemalige Grundschullehrerin, die ihn jeden Abend mit einem neuen Rätsel empfängt …

Für jeden von ihnen hat Carl einen passenden Namen aus einem Buch gefunden, die wirklichen Namen kennt er kaum noch. Diese kleinen Besuche und Gespräche an der Tür sind Carls Höhepunkte nach einem Tag in der Buchhandlung, in der er nicht mehr glücklich sein kann. Eines Abends gesellt sich plötzlich ein ziemlich neugieriges, aufgewecktes neunjähriges Mädchen zu ihm und erklärt, sie wolle ihn jetzt immer auf seinen Spaziergängen begleiten. Sie nennt ihn den Buchspazierer. Carl ist das gar nicht recht. Er möchte lieber alleine gehen und seinen Gedanken nachhängen, aber Schascha lässt nicht locker und weicht nicht mehr von seiner Seite. Schascha hat nicht nur ein gutes Gespür für das, was in Carl vorgeht, auch für seine Kunden. Sie weiß ziemlich bald, was mit ihnen nicht stimmt und was „man“ dagegen tun sollte. Sie überrumpelt Carl mit ihren Einfällen und spontanen Aktionen. Sie zaubert ihm wieder ein Lächeln ins Gesicht. Sie mischt sich ein und sein Leben auf. Seinen Kunden ist Schascha bald genauso ans Herz gewachsen wie Carl selbst. Mit ihrer direkten, unkomplizierten Art schafft Schascha es, Menschen zusammenzubringen und Freunde werden zu lassen. Freunde, die Carl nicht im Stich lassen, als es ihm schlecht geht.

Eine wunderschöne Geschichte um einen etwas sonderbaren alten Mann und ein neugieriges kleines Mädchen, um die verbindende Kraft der Bücher, um Freundschaft, Mut und Zusammenhalt. Aber auch um Einsamkeit und die Schnelllebigkeit unserer Zeit. Warmherzig, emotional, packend und anrührend erzählt.

Carsten Henn: Der Buchspazierer
Piper, November 2020
240 Seiten, Hardcover, 15,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.

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