Im Roman „Liebewesen“ von Caroline Schmitt ist Lio Anfang 30 und hatte noch nie eine feste Beziehung. Was anderen gute Gefühle bereitet – Nähe, zärtliche Berührungen, Sex – macht ihr Angst. Mit ihrem Körper steht sie auf Kriegsfuß. Auf Initiative ihrer besten Freundin und WG-Partnerin Mariam trifft sie sich mit Max und zu ihrem Erstaunen läuft das erste Date richtig gut. Das klingt jetzt nach einer klassischen Liebesgeschichte, aber keine Angst, die Autorin Caroline Schmitt kennt offenbar die Klischeefallen und umgeht sie geschickt. Ihre Figuren sind authentisch und ungekünstelt. Ich erlebe Schmetterlinge im Bauch und alles zerfressenden Alltag. Aufeinander aufpassen und aneinander vorbeireden. Während Max seine Winter-Depressionen mit fraglichen Hausmitteln behandelt bzw. sie auf Lios Rücken auslebt, offenbart sie nur selten die Abgründe ihrer Angst.
Der Roman ist durchgehend aus Lios Perspektive geschrieben. Sie kennt ihre Dämonen und begegnet ihnen über weite Strecken mit Humor.Für das tägliche Überleben hat sie sich eine Fassade geschaffen, sie erfüllt Erwartungen und hält sich Mitmenschen auf Abstand. Der leicht flapsige und selbstironische Duktus, hinter dem sie ihre Gefühle versteckt, wird immer dann unterbrochen, wenn Erinnerungen aus der Kindheit an die Oberfläche streben: die liebesunfähige Mutter und der Vater, der seinen Kummer in Alkohol ertränkte, nehmen immer mehr Raum ein und lassen mich ahnen, welche Zerstörungen Lios Seele in der Kindheit davongetragen hat. Als Lio ungewollt schwanger wird, muss sie sich entscheiden: für oder gegen das Kind und auch für oder gegen Max.
Einfach weglaufen reicht nicht
Der Roman besteht aus zwei zeitlich voneinander getrennten Abschnitten. Nach Teil 1 mit Kennenlernen und Zusammenziehen folgt abrupt ein Zeitsprung von zwei Jahren in eine Beziehung, die vor allem aus Gewohnheit besteht und deren schließlich Bestehen von einem kugeligen Zellhaufen in der Gebärmutterschleimhaut auf die Probe gestellt wird. Die eigentliche Frage, die das Buch wie ein roter Faden durchzieht, ist eine andere: Wie kann man eine von Abweisung und Misshandlung geprägte Kindheit hinter sich lassen? Reicht es, wenn man ihr einfach davonläuft? Kann man seinen Körper lieben lernen oder ihm wenigstens vertrauen? Das kleine Wesen in ihrem Körper zwingt Lio, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und hilft ihr, Antworten zu finden.
Caroline Schmitt hat ein starkes Buch über den Weg in ein freies selbstbestimmtes Leben geschrieben.
Caroline Schmitt: Liebewesen.
Eichborn Verlag, Januar 2023.
221 Seiten, Gebunden, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.