So scharf wie ein gutes Curry! Balli Kaur Jaswal ist ein verwegener Mix aus Emanzipations-Story, Komödie, Krimi, Kulturpanorama und einem „Kamasutra meets Sextoys“ gelungen. Ja, Sie haben richtig gelesen! Doch der sexuelle Befreiungsschlag geht nicht etwa von der 22-jährigen Engländerin Nikki aus, die zwar indische Wurzeln hat, aber ansonsten mit den Gebräuchen ihrer Eltern nichts mehr anfangen kann. Es sind alte Witwen in traditionellen Saris, die in Nikkis Schreibworkshop ihre erotischen Fantasien zum Besten geben! Dieser Roman ist ein unkonventionelles Bravourstück, das – im wahrsten Sinne des Wortes – Lust auf mehr macht…
Nikki hat ihr Jura-Studium geschmissen, jobbt als Kellnerin in einem Pub und lebt relativ planlos in den Tag hinein. Sie hat Spaß mit ihrer besten Freundin Olive, trinkt gerne Wein, ist Zigaretten und Männerbekanntschaften nicht abgeneigt. Weiter nicht verwunderlich, wäre da nicht ein kleines Detail wie Nikkis Nachname: Grewal. Denn Nikki ist die Tochter von Sikhs. Während ihre ältere Schwester sich gerade an einer arrangierten Ehe versucht, lehnt Nikki die alten Traditionen ab. Sie ist aus ihrem Elternhaus in Southall, dem indischen Stadtteil Londons, ausgezogen, sehr zum Missfallen ihrer Mutter.
Aus Geldnot bewirbt sie sich um einen Job als Schreibwerkstättenleiterin im Gemeindezentrum eines Sikh-Tempels. Allerdings hat die zuständige Leiterin Kulwinder das Ganze als Alphabetisierungskurs ausgeschrieben. So wundert sich Nikki, dass nur ältere, in weiße Witwenkleider gehüllte Damen ihren Seminarraum aufsuchen, die gar nicht schreiben können. Dem Mitteilungsbedürfnis tut dies allerdings keinen Abbruch. Sie erzählen sich erotische Geschichten – mit äußerst expliziten Details. Doch während die Damen noch darüber diskutieren, welches Gemüse einen männlichen Penis am besten umschreibt, tut sich Gefahr auf. Da ist zum einen die erzkonservative Bruderschaft. Die Männer patrouillieren durch Southalls Straßen, um Frauen „wieder auf den rechten Weg zu bringen“. Zum anderen darf die reservierte Kulwinder nichts vom tatsächlichen Unterrichtsinhalt erfahren. Doch Kulwinder ist mit eigenen Problemen beschäftigt. Im vergangenen Jahr starb ihre Tochter Maya unter mysteriösen Umständen. Sie soll sich im Garten ihrer Schwiegermutter selbst verbrannt haben. Ist das möglich – oder steckt dahinter ein Racheakt?
Während sich Nikki in den charmanten US-Inder Jason verliebt und die Frauen ihres Kurses an Selbstbewusstsein gewinnen, wird sie immer mehr in den Fall hineingezogen. Das hat Folgen.
Was auf dem Papier wie ein irrer Genre-Mix klingt, funktioniert auf den 471 Seiten dieses Romans hervorragend. So wie sich ein gutes indisches Curry aus verschiedensten Geschmacksnuancen zusammensetzt, so schafft es auch die Autorin, ein umfangreiches Bild einer Gesellschaft der scheinbaren Widersprüche zu zeichnen. Balli Kaur Jaswal wurde in Singapur geboren und lebte in unterschiedlichsten Ländern auf dem Globus. Dies ermöglicht es ihr, Themen von allen Seiten zu beleuchten. Sie beschönigt weder die Schattenseiten des „Izzat“, dem Konzept der Familienehre, noch verdammt sie kategorisch das Konzept der arrangierten Ehe. „Ich treffe meine eigenen Entscheidungen, aber ich möchte meine Familie in die Entscheidungsfindung mit einbeziehen“, argumentiert Nikkis ältere Schwester Mindi. Gewalt gegen Frauen, Ausgrenzung von Fremden, Integrationsprobleme und Schwierigkeiten bei der Identitätsfindung – die Autorin packt all diese Themen zum lustvollen Kern der erotischen Geschichten hinzu.
Trotz aller kuriosen Comedy- und Erotikkomponenten ist es wohl der größtes Verdienst dieses Buches, dass er beim Lesen den eigenen Horizont erweitert und vermeintliche Scheuklappen ablegt. Ein Sari ist kein Keuschheitsgürtel! Warum sollten reife Inderinnen kein Interesse mehr an Erotik zeigen, wo wir ihren gleichaltrigen Kolleginnen in Europa doch selbiges zugestehen? Dieser Mix aus Ost und West, Tradition und Moderne kommt trotz scheinbarer Widersprüche damit der Realität wohl am nächsten. Dieses Buch zeigt, das Leben ist nicht nur schwarz und weiß. Es ist bunt!
Letztendlich bringt uns Balli Kaur Jaswal auch eine der faszinierendsten Kulturen näher. Obwohl jeder siebte Mensch auf der Welt aus Indien stammt, stellt das Land für den Westen immer noch ein Mysterium dar. Zwischen Bollywood-Glamour und Kastensystem, zwischen Ayurveda und Armenslums, zwischen gewaltlosem Widerstand und Gewalt gegen Frauen, zwischen Vegetarismus und High-Tech-Revolution lauern noch abertausende aberwitzige Geschichten, die es wert wären, aufgeschrieben zu werden.
Erste Schritte sind bereits getan. Die Autorin arbeitet an einem weiteren Roman. Und die Filmrechte für „Erotic Stories for Punjabi Widows“ – so der zutreffende Originaltitel – wurden bereits verkauft. In diesem Sinne: Fair milaange – auf Wiedersehen!
Balli Kaur Jaswal: Geheime Geschichten für Frauen, die Saris tragen.
Goldmann, Juni 2018.
480 Seiten, Taschenbuch, 10,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
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