Ellen ist eine alte Schulfreundin von Inger Johanne Vik, die wiederum mit Yngvar Stubø liiert ist. Somit gehört „Schattenkind“ streng genommen in Anne Holts Yngvar Stubø-Reihe, obwohl es in diesem Buch weniger als sonst um bloße Ermittlungsarbeit geht. Eines Abend betritt Inger Johanne Ellens Haus und findet die Familie im Schock vor. Der 8-jährige Sander ist anscheinend gerade von der Trittleiter gefallen und hat sich dabei den Schädel eingeschlagen. Ein schrecklicher Unfall, wie es scheint und dann kommt die Nachricht über das Massaker auf Utøya herein und alle sind nur noch daran interessiert, dann Fall so schnell wie möglich abzuschließen. Einzig ein ehrgeiziger Polizist und Inger Johanne mögen nicht so recht an die Unfallversion glauben, für alle anderen passt es einfach alles zu gut zusammen. Sander galt als hyperaktiv, er war ungeschickt, brach sich öfter mal was und jetzt hat er es eben gar zu wild getrieben. Aber so einfach ist es nicht.
Anne Holt hat die Zeit nach Utøya nicht zufällig als Hintergrund für ihre Geschichte gewählt. Der Grund scheint weniger darin zu liegen, dass dort auch unschuldige Kinder starben, sondern mehr in der gemeinsamen Frage: Hätte die Gesellschaft das verhindern können? Für Utøya hat man auf diese Frage bis heute keine Antwort gefunden, für Sander findet Anne Holt ein klares „ja“. Und es gelingt ihr auch sehr deutlich zu machen, dass die Versäumnisse nicht durch das herrschende Chaos nach dem Massaker zustande kommen. Durch diesen Hintergrund schafft sie es aber, Inger Johanne mit den Ermittlungen glaubhaft allein zu lassen und deutlich zu machen: Es gibt immer etwas Wichtigeres.
Anne Holt gelingt es in ihrem Roman, das Thema Gewalt und Kindesmisshandlung glaubhaft und verständlich zum Leser zu bringen, ohne dabei jemals plakativ zu werden. In ihrer typischen unaufdringlichen Sprache schildert sie Vorgänge, die einem den Atem stocken lassen. Denn mehr und mehr kristallisiert sich heraus, dass man Sander sehr wohl hätte schon sehr viel früher helfen können, wenn nur jemand hingesehen hätte. Wenn nur jemand nicht um des lieben Friedens willen geschwiegen hätte. Wenn nur jemand die Diagnose „hyperaktiv“ nicht einfach geglaubt hätte. Wenn nur jemand es nicht zugelassen hätte.
Fazit: Ebenso starkes wie spannendes Buch, wie die meisten nordischen Krimis nichts für schwache Gemüter.
Anne Holt: Schattenkind.
Piper, Oktober 2013.
336 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.