Anne Becker: Luftmaschentage

Es ist nicht immer einfach, jung zu sein. Wenn dann die eigene Mutter noch Pfarrerin ist und alle Welt auf einen starrt, kann es einem schon Mal die Sprache verschlagen. So ergeht es Mats, sie kann nur mit ganz wenigen Menschen überhaupt sprechen, ihre alte verstorbene Nachbarin, die sie in die Welt der Handarbeit einführte, war eine davon, eine andere ihre Freundin Charlotte, und natürlich ihre Familie. Für alle andern ist sie stumm. Denn in ihrem Kopf wohnt Madame Schüchtern, die sich groß machen und ihr die Worte aus der Kehle stehlen kann. Und dann kommt Ricci neu in ihre Klasse und sie ist so ganz anders.

Ricci ist das Gegenteil von schüchtern, bringt aber auch einen schlechten Ruf mit. Dafür bringt sie Mats zum lachen und dazu, Dinge zu tun, an die Mats früher nicht einmal gedacht hätte. Aber Ricci scheint ein Geheimnis zu haben und eines Tages ist sie einfach verschwunden (das ist kein Spoiler, das taucht sehr früh im Buch auf).

Anne Becker verflicht hier zwei Schicksale, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch zusammenfinden. Mats, die Pfarrerstochter, immer brav, immer angepasst, bricht nur aus, wenn sie heimlich Dinge in der Stadt umhäkelt. Aus ihrer Sicht wird die Geschichte erzählt. Auf der anderen Seite Ricci, die aus einer dysfunktionalen Familie kommt, das verzweifelt zu verbergen versucht und auch nicht so furchtlos ist, wie sie mit ihrer großen Klappe vorgibt – oder zumindest nicht jedem gegenüber. Das war eines der Dinge, die mich an dieser Geschichte fasziniert haben: Beide Mädchen scheinen sehr genau auszuwählen (oder ihr Unterbewusstsein tut es), wem gegenüber sie sich wie verhalten. Aus der Sicht eines Erwachsenen macht das nicht immer Sinn, denn die Lehrerin, die Ricci angreift, könnte ihr das Leben vielleicht nachhaltiger versauen, als der seltsame Typ, vor dem sie Todesangst hat. Aber die Bedrohung ist direkter und so lässt Anne Becker uns an der Welt der Kinder teilhaben. Während des Buches konnte ich mich dran erinnern, dass ich in dem Alter die Welt auch anders wahrgenommen habe, als die Erwachsenen. Empfohlen wird das Buch ab 11 Jahre, aber ich bin über 50 und fand es auch sehr schön.

Das „Luftmaschentage“ komplett aus Mats kindlich eingeschränkter Sicht erzählt wird, führt leider oder auch gut dazu, dass auch der Leser nur mehr oder weniger raten kann, was genau bei Ricci vorgeht. Mats Mutter weiß es zwar, sagt es ihr aber nicht, und ihr selbst fehlt die Lebenserfahrung, um mehr als Spotlights zu erahnen. Einerseits fand ich das ein bisschen schade, auf der anderen Seite bewundere ich Anne Berger, der Versuchung widerstanden zu haben, Riccis Leben voyeuristisch vor dem Leser auszuwalzen.

Insgesamt ein gelungenes Buch, das von der Spannung zwischen zwei so ganz verschiedenen Leben getragen wird.

Anne Becker: Luftmaschentage
Beltz & Gelberg, Juli 2023
173 Seiten, gebundenes Buch, 13 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.

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